Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
Schneiders Dienstwagen in Hohensaaten eintraf. Die zweite Welle hatte den Fluss binnen kurzer Zeit wieder ansteigen lassen und das Wasser mit so ungeheurer Wucht gegen die Planen gepresst, dass sie an vereinzelten Stellen durch die Bruchstellen hindurchgedrückt wurden.
Schneider wusste zwar, dass es wenig Sinn hatte, im Durcheinander von Polizei, Feuerwehr und Bundesgrenzschutz nach einer einzelnen Person zu suchen, aber er hoffte, dass Harris inzwischen seine Mailbox abgehört hatte, und wollte vor Ort sein, wenn dieser zurückrief. Ausgerechnet Kahlhaase, dessen Lahmarschigkeit ihn schon während der Ermittlungen genervt hatte, klopfte ihm jetzt im Vorbeigehen väterlich auf die Schulter.
Schneiders Stand bei den Lunower Beamten hätte man zu keinem Zeitpunkt als sonderlich gut bezeichnen können, nachdem er aber suspendiert war, schlug der dienstrangbedingte Respekt in Hohn um. Ganz sicher hatte seine Schlägerei mit Sünkeberg die Runde gemacht, und auch der Anlass war schnell durchgesickert. Nur durch das Ende der Ermittlungen war er als Gehörnter dem Spott entgangen. Aber das spielte momentan alles keine Rolle. Das Wichtigste war, jetzt Harris Zimmering zu finden, um Alexandra Fischer so schnell wie möglich hinter Gitter zu bringen.
»Wo ist Zimmering!«, brüllte Schneider gegen den Hubschrauberlärm an und schloss mit zwei schnellen Schritten zu Kahlhaase auf.
»Keine Ahnung, hab ihn schon seit ’ner Stunde nicht mehrgesehen. Wenn Sie Glück haben, finden Sie ihn in Lunow. Er hat irgendwas gefaselt, dass da noch ’ne alte Oma sitzt. Bauernstraße 5, glaub ich.«
44.
Knapp eine Stunde hatten sie sich gegenübergesessen, einander taxierend wie Wölfe, geduldig auf eine Schwäche des anderen wartend.
»Meinst du, du schaffst es, mich zu töten?«, fragte Harris.
Alexandra lachte schallend auf. »Es ist so leicht, Harris. Wenn du wüsstest, wie leicht es ist.«
»Das scheint einer der Unterschiede zwischen uns zu sein.«
Alexandra lehnte sich zur Seite und zog die Axt in ihren Schoß. Ihre Finger umspielten die blanke Schneide, hin und wieder beugte sie sich hinunter und kontrollierte ihr Spiegelbild.
»Du brauchst Hilfe«, sagte er.
Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »O ja, diesen Satz kenne ich. Tausend Mal gehört! Danach kommt die Fixierung an ein Bett! Schon mal so geschlafen, Harris? Tage, Wochen, Monate? Du hast ja keine Ahnung!«
Harris’ Handy blinkte in der Dunkelheit, gleich darauf schrillte der Klingelton. Alexandra hob es vom Boden auf, sah auf das Display und lächelte. »Armer Kriminalkommissar, du wirst dir wohl einen neuen Dorfbullen suchen müssen!« Sie drehte sich etwas seitlich, fixierte das geöffnete Fenster und warf das Handy zielsicher hindurch. Ein paar Sekunden lang konnte man es im Wasser noch klingeln hören, dann war es still. Alexandra wandte sich wieder zu Harris. »Interessiert es dich?«
»Was?«
»Wie ich es gemacht habe?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich wissen will.«
Sie zuckte übertrieben mit den Schultern.
»So sind wir eben. Immer Angst vor der Wahrheit. Ich glaube, die Menschen belügen sich lieber selbst, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«
»Und du? Wie sieht’s bei dir aus? Was ist deine Wahrheit?«, fragte Harris.
»Die hat noch nie jemanden interessiert.«
»Dann erzähl sie mir ! Was hat man dir angetan?«
»Wer soll mir was angetan haben?«, fragte sie spöttisch und schüttelte den Kopf. »Du redest wirres Zeug!«
Harris musste sich eingestehen, dass das Bild, welches er bislang von Psychiatriepatienten hatte, von Alexandra gründlich widerlegt wurde. Seine laienhafte Vorstellung von in Zwangsjacken hin und her schaukelnden Geisteskranken war nach seiner Begegnung mit Alexandra nicht länger aufrechtzuerhalten. Zwar wechselten ihre Stimmung und Gefühlslage binnen Sekunden, aber das war seines Erachtens nicht nur typisch für eine Irre, sondern schlichtweg für alle Frauen. Und wie diese ticken, war ihm nicht nur fremd, sondern würde ihm ewig ein Rätsel bleiben.
»Weißt du, was mir Adam erzählt hat?«, unterbrach Alexandra seine Gedanken. »Er sagte, dass mein Vater mir nie, nie, nie verzeihen würde.« Nachdenklich sah sie auf die Axt in ihrem Schoß und fügte dann flüsternd hinzu. »Ich hatte gehofft, sie würden es irgendwann tun. Aber das haben sie nicht. Adam hatte recht. Vergossenes Blut trocknet nicht.«
Alexandra war in ihrer Gedankenwelt unerreichbar geworden, und ganz wie sie
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