Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
wieder aus. Ninas Tipp, sich in solchen Momenten einzig auf die eigene Atmung zu konzentrieren, half. Alexandra beruhigte sich, ihr Puls kehrte zur normalen Frequenz zurück, und das Denken fiel ihr wieder leicht.
Obgleich sie sich eingestehen musste, dass sie sich noch nie so hilflos gefühlt hatte, widerstand sie der Versuchung, ihre Freundin sofort anzurufen. Was sollte sie Nina sagen? Hilfe, ich höre Geräusche, und die Hauselektrik spinnt? Nina würde ihr sofort raten, alles stehen und liegen zu lassen und noch am selben Tag zurückzukehren. Sie hatte sie schließlich eindringlich vor diesem Umzug gewarnt und während der letzten gemeinsamen Abende mit Horrorgeschichten umzustimmen versucht. Erst als sie eingesehen hatte, dass das nichts brachte, hatte sie ihr alles Glück der Welt gewünscht und ihr das Versprechen abgenommen, beim geringsten Anzeichen eines Rückfalls sofort einen Arzt aufzusuchen.
Alexandra tastete nach der kleinen Dose in ihrer Hosentasche und lächelte. Nein, sie brauchte keine Tabletten mehr, sie war inzwischen stark genug, dagegen anzukämpfen. Trotzdem beschloss sie, gegen zehn Uhr Nina anzurufen und sie zu einem Besuch zu überreden. Die Anwesenheit der Freundin würde nicht nur jede Menge Spaß bringen, auch zwei helfende Hände konnte sie bei dem, was sie einrichtungstechnisch noch vor sich hatte, gut gebrauchen. Ungeduldig sah sie auf ihre Uhr. Wenn sie Nina allerdings sofort anriefe, noch bevor diese ihren Tag plante, standen die Chancen für einen Besuch deutlich höher. Gegen zehn war Nina doch längst in irgendeiner Galerie oder saß mitten in einer Besprechung. Momentan jedoch schlief sie tief und fest. »Was soll’s«, dachte Alexandra. Die Gewissheit, den anderen zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen zu können, war eines der wertvollsten Merkmale dieser jahrelangen Freundschaft. Mit diesem Gedanken fiel es ihr leicht, ins Haus zurückzukehren. Minuten später hatte sie beinahe jeden Winkel des Erdgeschosses nach einer Stelle durchforstet, an der es wenigstens einen schwachen Handyempfang gab. Ohne Erfolg, ebenerdig gab es keinen Ort, an dem ihr Telefon funktionierte.
»Na, das kann ja heiter werden«, schimpfte Alexandra leise vor sich hin und verfluchte wieder einmal ihre Leichtfertigkeit und ihre lapidare Behauptung, auch ohne einen Festnetzanschluss mit der übrigen Welt in Verbindung bleiben zu können. Das nicht bestehende Funknetz würde in dieser gottverlassenen Gegend nun zum existentiellen Problem werden. In der Hoffnung, dass es nur die dicken Mauern des Hauses waren, die den Empfang verhinderten, lief sie, in der rechten Hand noch immer die Tasse mit dem inzwischen erkalteten Kaffee, die linke mit dem Handy weit nach oben gestreckt, wieder nach draußen, aber auch dort zeigte das Telefon nicht einen einzigen Balken an. Nach einigem Hinundhergelaufe gab Alexandra auf und ließ sich enttäuscht auf der alten Gemüsekistenieder. Es würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als den Morgen abzuwarten und es bei einem Ausflug ins Dorf erneut zu versuchen.
8.
Den Duft frisch gebackener Brötchen der nahe gelegenen Bäckerei in der Nase und in Vorfreude auf ein ausgedehntes Frühstück im eigenen Garten, betrat Alexandra gutgelaunt die einzige Verkaufsstelle von Lunow. Wie in kleineren Orten üblich, stellte dieser Supermarkt mehr als nur eine Einkaufsmöglichkeit für die Dorfbewohner dar, er schien Treffpunkt tratschender Hausfrauen und Kindergarten in einem zu sein. Entweder kauften hier selten Fremde ein, oder aber Alexandras Auftritt in farbverschmierter Latzhose, aus deren Taschen rechts und links jeweils ein Baguette hervorschaute, verschlug den Frauen die Sprache. Es herrschte jedenfalls, kaum dass man ihrer gewahr wurde, peinliche Stille.
»Einen wunderschönen guten Morgen allerseits«, sagte Alexandra und bahnte sich lächelnd einen Weg durch eine ganze Horde Kinder unterschiedlichen Alters. Während einige der Frauen zaghaft zurückgrüßten, plärrte der Großteil der Kinder brav im Chor »Guten Morgen!«.
Alexandra, verzückt über diesen Empfang, wandte sich spontan den Kindern zu. »Na, was ist, wollt ihr mir helfen? Ich bin neu hier und habe keine Ahnung, wo Milch und Zucker stehen.«
Mit diesem Ansturm kindlicher Hilfsbereitschaft und Neugierde, der nun auf sie einprasselte, hatte sie nicht gerechnet. In Windeseile hatte sie an jeder Seite mindestens drei Kinder, die sich lautstark darüber stritten, wo rechts und links ist und in welchem
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