Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
der Regale denn nun der Zucker zu finden war. Alexandra ließ sich lachend mitziehen, bis ein lauter Pfiff aus einer Trillerpfeife die Gruppe abrupt zum Stehen brachte.Maulend drehten die Kinder um und kehrten zu ihrer Erzieherin zurück. Diese winkte Alexandra zu und zeigte auf ihre Armbanduhr. Weshalb auch immer sie es eilig hatten, nur eine Minute später war die Verkaufsstelle kinderfrei. Das Einsetzen von Glockengeläut verringerte die restliche Menschenansammlung mindestens um zwei Drittel, und als Alexandra um die fünfte Regalecke bog, war der Eingang schließlich menschenleer.
Sie suchte gerade, die Lebensmittel bis hoch zum Kinn gestapelt, nach einem leeren Karton, als eine harte knorrige Hand ihren Unterarm umklammerte. Verdutzt drehte Alexandra sich um und sah in das faltige Gesicht einer uralten Frau. Nun, da Alexandra sich ihr zuwandte, lockerte sie nicht etwa den Griff, sondern zog sie mit eiserner Hand zu sich hinunter.
»Gehen Sie fort von hier!«, flüsterte die alte Frau und durchbohrte sie mit einem Blick aus milchig weißen Augen. Noch bevor Alexandra etwas erwidern konnte, ließ die Frau los, drehte sich um und schlurfte, das linke Bein ein wenig nachziehend, davon. Obgleich sich der Satz wie eine Warnung anhörte, schenkte Alexandra dem Vorfall keine weitere Beachtung. Erst an der Kasse kam er ihr wieder in den Sinn. Da sie davon ausging, dass die gelangweilte Verkäuferin hinter der menschenleeren Kasse sie als nunmehr einzige Kundin beobachtet hatte, fragte sie direkt und ohne Umschweife: »Die alte Frau eben, was ist mit ihren Augen?«
»Sie ist blind«, antwortete die Verkäuferin recht teilnahmslos, während sie mit geübtem Griff die Waren über den Scanner zog.
»Aber wie konnte sie dann …?«
Die Verkäuferin unterbrach sie, ohne aufzusehen. »Sie meinen, Ihren Arm greifen? Sie fühlt es.«
Eine Packung Batterien, die sich partout nicht einscannen lassen wollte, brachte die eingespielte Routine ins Stocken.Beinahe hektisch, so als stünden hinter Alexandra noch Dutzende andere, nestelte die Kassiererin an ihrer Kitteltasche und zog, nachdem sie sich nach allen Seiten umgesehen hatte, eine Brille hervor. Verlegen setzte sie das Kassengestell auf, kniff dennoch die Augen zusammen und hielt sich die Packung nah vor das Gesicht. Dabei tippte sie eilig die Nummern in die Kasse. So schnell, wie sie die Brille hervorgeholt hatte, ließ sie sie auch wieder in ihrer Tasche verschwinden. Dann atmete sie erleichtert auf und sah Alexandra an.
»Was hat sie gesagt?«, fragte sie neugierig.
Alexandra, die den Brillenvorgang amüsiert beobachtet hatte, wusste nicht gleich, worauf sie hinauswollte. »Wer? Ach so. Dass ich fortgehen soll. Was meint sie damit?«
»Gar nichts. Ich glaube, es ist eine Macke von ihr. Sie ist fünfundachtzig und lebt seit Jahrzehnten vollkommen allein. Da wird man halt wunderlich.«
Alexandra hätte dieser einfachen Erklärung gern Glauben geschenkt, aber da jede Person, der sie bisher begegnet war, in irgendeiner Weise seltsam reagiert hatte, musste es einen geheimnisvollen Umstand geben, von dem alle, außer sie selbst, Kenntnis hatten. Entweder legten es hier alle darauf an, sie zu vergraulen, indem sie von mysteriösen Bedrohungen sprachen, oder aber Alexandra bildete sich all das nur ein, weil sie, plötzlich allein, übersensibel auf Gerede reagierte. Da Letzteres beruhigender war, beschloss sie zum wiederholten Mal, dieser Art von Dorfgeschwätz keine große Bedeutung zukommen zu lassen.
»Übrigens, ’ne super Nummer, die Sie da abgezogen haben!«, hörte sie die Verkäuferin sagen. »Sie sind jetzt zwar das Klatschthema Nummer eins für mindestens zwei Tage, aber Sie sehen so aus, als ob Sie damit klarkämen.« Die Verkäuferin streckte plötzlich die Hand über die Kasse. »Sybille.«
»Alexandra. Die Neue, über die man sich ab jetzt das Maul zerreißt!«
Sybille zog lächelnd die Brauen nach oben und zuckte mit den Schultern. »Das lässt schnell wieder nach. Dann schließt man dich in die Arme, und zwar so sehr, dass dir die Luft wegbleibt. Ne, ne, das Dorf ist schon okay, und irgendwie hat’s ja auch was für sich, wenn alle zusammenhalten. Heutzutage! Zwanzig vierunddreißig.«
Mit einem »Pling« sprang die Kasse auf. Alexandra legte einen Hunderter in Sybilles geöffnete Hand, ignorierte deren verzweifelten Blick und packte ihre Sachen in die Plastiktüten.
»Wohin sind denn alle so schnell verschwunden? Sah ja nach einer regelrechten
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