Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)

Mordscheiße geht mir ohnehin langsam auf ’n Sack! Sorry, aber so ist es nun mal. Bis vor kurzem war das hier ’n Kuhdorf, Dienst nach Vorschrift, mehr war nie verlangt. Und jetzt hab ich diesen Lackaffen am Arsch, muss nach seiner Pfeife tanzen und soll womöglich auch noch nachts verfügbar sein. Das kann er vielleicht mit seinen SOKO-Typen veranstalten, mit mir nicht!«
    »Apropos SOKO. Gibt es eigentlich so was wie ein Profil?«
    »Du meinst ein Täterprofil? Na klar gibt es das. Männlich, zwischen dreißig und vierzig, durchschnittliche Intelligenz, er lebt allein, macht höchstwahrscheinlich Kraftsport … bla, bla, bla. Genau genommen ist das jeder Dritte hier im Ort. Was ist, wenn er so intelligent ist, dass er uns dieses Profil diktiert. Einfach, weil er weiß, wie wir arbeiten. Meine Meinung ist: Wenn’s hart auf hart kommt, kannst du dich weder auf ein Profil noch auf deine Kollegen oder deine fünf Sinne verlassen, einzig auf deine Intuition.«
    »Intuition? Ich dachte immer, das ist Frauensache … das mit dem Bauchgefühl.«
    »Du redest schon wie Schneider.«
    »’tschuldigung. Nennt er dich deswegen Fräulein …?«
    Harris’ Miene verdüsterte sich. »Schneider is ’n Arschloch. Selbstgerecht und eingebildet. Ich weiß nicht mal, ob er in dem, was er tut, wirklich gut ist.«
    Alexandra hielt die geöffnete Wasserflasche an ihre Lippen, aber statt zu trinken, redete sie. »Okay, lassen wir diesen Schneider mal außen vor. Mich interessiert dein Bauchgefühl. Traust du so etwas wirklich einem deiner Freunde zu?«
    Harris hob die Schultern und ließ sie dann ruckartig wieder fallen. »Schneider hat sich in die Schumann-Brüder verbissenund lässt nicht locker. Dabei können wir keinem von beiden wirklich was nachweisen. Natürlich kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, so jemanden zu kennen. Aber das geht allen so, die eines Tages erfahren, dass ihr Mann oder der Onkel plötzlich zum Kindermörder geworden ist. Es sind halt doch Menschen wie …«
    »Du und ich?«, unterbrach Alexandra. »Nein. Das sind keine Menschen wie du und ich. Und diese Mär von der verpfuschten Kindheit glaube ich auch nicht. Oder nur bedingt. Sieh mal, bei mir ist auch ’ne Menge schiefgelaufen, aber deswegen werde ich nicht zur Mörderin. Oder nimm dich! Hattest du eine glückliche Kindheit? Ist da immer alles glattgelaufen?« Alexandras Blick ließ darauf schließen, dass sie eine Antwort erwartete.
    »Das Übliche. Scheidungskind«, sagte Harris trocken.
    »Da haben wir’s. War sicher nicht angenehm. Ständiger Streit, der ein oder andere Wutausbruch der Eltern, schließlich die Trennung und du … mittendrin. Ein Kind, das sich nicht wehren kann. Und? Läufst du deswegen jetzt Amok?« Wieder endete sie mit einer Frage, die sie aber nur für Sekunden im Raum stehen ließ. »Im Gegenteil, du bist zu den Guten gegangen! Du bist ’n Bulle geworden! Jeder Mensch hat die Wahl! Gut! Oder böse!«
    Harris setzte sich auf und lächelte. »Hört sich vernünftig an, aber ich glaube nicht, dass die Menschen so funktionieren. Ich habe in den letzten Wochen viel darüber nachgedacht, und ich habe nur eine Antwort gefunden. Es gibt tausend Gründe, zum Mörder zu werden, und ich glaube, dass es ganz einfach ist, wenn man ein Motiv hat. Kannst du dir nicht vorstellen, jemanden so zu hassen, dass du in der Lage wärst, ihn zu töten? Ich schon.«
    In Alexandras Augen spiegelte sich zunächst Erstaunen, dann Entsetzen, schließlich vollkommenes Unverständnis.
    »Du kannst es dir nicht vorstellen?«, setzte Harris nach.»Dann gebe ich dir jetzt ein Motiv. Also, stell dir einen Menschen vor, der dir alles bedeutet … den du sehr liebst, dein eigenes Kind, deine Eltern oder Geschwister. Also einen Bruder oder ’ne kleine Schwester eben. Und eines Tages kommt jemand und nimmt dir deine kleine Schwester weg, vielleicht sogar vor deinen Augen, und du kannst es nicht verhindern. Deine Schwester bleibt verschwunden, du wirst krank vor Angst, deine Sorge lässt dich nicht mehr schlafen, Wochen, Monate. Du weißt nicht, ob sie noch lebt. Irgendwann stellt die Polizei die Ermittlungen ein, und du beginnst auf eigene Faust, nach ihr zu suchen. Die Suche wird zu deinem Lebensinhalt, du kannst nichts anderes mehr tun, nichts anderes denken. Und dann … eines Tages wird ein Mann geschnappt und legt ein Geständnis ab. Unfassbar, grauenvoll. Das Martyrium deiner kleinen Schwester läuft wie ein Film vor dir ab, ihre Angst, ihre