Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
Stufe genau zu dem Ort bewegte, vor dem sie sich am meisten fürchtete.
»Sieh es als Therapie«, sprach sie sich selbst Mut zu, »und wenn du es schaffst, kannst du die Scheißpillen endgültig in den Müll werfen!«
Mit riesiger Überwindung bezwang sie die letzte Treppenstufe und stand nun vor der steilen Dachstiege. Bis hierher war Jack ihr brav gefolgt, nun musste sie allein weiter, denn die engen Stufen stellten für den ungestümen Welpen eine zu große Herausforderung dar. Alexandra unterdrückte den Impuls, auf der Stelle kehrtzumachen und in Panik ins Untergeschoss zu fliehen. Früher hatte ihre Mutter ihr Mut zugesprochen, wenn sie zum x-ten Mal vor Liebeskummer fast gestorben war, jetzt gab es nur noch die Erinnerung daran. »Ich möchte dich so gern vor Unheil bewahren, aus welcher Richtung es auch immer kommen mag. Aber weil ich dich liebe, muss ich dich diese Erfahrungen allein machen lassen. Nur so wirst du zu einem starken Menschen.« Alexandra tätschelte Jack den Kopf, mehr um sich selbst zu beruhigen, undatmete tief durch. Vielleicht war das eine dieser Erfahrungen, die sie machen musste, um ihr neues Leben wirklich beginnen zu können, auch wenn ihre Mutter damals solcherart Geschehnisse weder voraussehen noch gemeint haben konnte. Trotzdem wirkte es. Ohne weiter darüber nachzudenken, was sie Unheilvolles erwarten könnte, stieg Alexandra die Treppe hinauf und hob die Dachluke ein paar Zentimeter an. Was sie dann sah, ließ ihr das Blut durch die Adern rasen.
Im diffusen Mondlicht wiegte sich mit leisem Summen eine große, feingliedrige Gestalt mit langen, strähnigen Haaren. Der Saum des weiten Kleides schwang um die dünnen Waden, ihre Füße, zu groß für die grazilen Pumps, ragten an den Fersen weit über das Ende der Schuhe hinaus. Nichts an dieser Gestalt passte zusammen, was ihr etwas Hässliches, Missgestaltetes, ja fast Monströses gab. Ihre linke Hand hielt das Kleid ein wenig von sich weg, mit der rechten fuhr sie sich unentwegt durch die langen Haare und fasste sich dann, ganz wie es Harris immer tat, ans Ohr. Das Summen ging plötzlich in heiseres Krächzen über und erstickte dann in einem tiefen Hustenanfall. Alexandra spürte, wie die Kraft ihres linken Armes, mit dem sie die Luke über ihrem Kopf hielt, langsam nachließ, aber die Angst, auch nur das leiseste Geräusch zu machen, zwang sie durchzuhalten. Ihre Augen waren dabei starr auf die Frauengestalt gerichtet. Ein kaum vernehmbares Knacken ließ die Gestalt plötzlich innehalten. Sekundenlang war es totenstill. Gleich würde sie sich umdrehen und die heimliche Beobachterin bemerken. Alexandra hielt den Atem an und schloss die Augen. Wieder knackte es, fast zeitgleich verlor sich plötzlich das Gewicht der Luke auf ihrer Hand. Als Alexandra die Augen öffnete, befand sich das Gesicht der Frau direkt über ihr. Alles, was sie im Halbdunkel erkennen konnte, war eine hervorstechende, bis zur Unkenntlichkeit überschminkte Fratze. Sie hörte nur noch einen leisen Aufschrei, der von ihr selbst kommen musste,gefolgt von schmerzhaften Stößen am ganzen Körper, dann wurde es schwarz um sie herum.
Etwas Feuchtwarmes fuhr über ihr Gesicht, von irgendwoher tönte gedämpftes Schlagen. Sie lag weich, das spürte sie, aber ihre Glieder schmerzten, als wäre unter ihr nur harter Boden. Der dunkle Schleier vor ihren Augen hob sich nur langsam, daher brauchte es eine ganze Weile, bis Alexandra sich aufrichten und umsehen konnte. Sie saß auf dem Bett im vorderen Zimmer, auf dem Fußboden lag die umgefallene Stehlampe, daneben ihr blutverschmiertes Kopfkissen. Jack, hocherfreut darüber, dass sie wach war, stellte sich mit den Vorderpfoten auf die Bettkante und leckte ihr stürmisch die Wange. »Aus! Hör auf damit!«, schimpfte Alexandra und schob den Welpen von sich weg. Erst jetzt bemerkte sie Jacks rot gefärbtes Maul und fasste unwillkürlich an ihre Stirn. Die klaffende Wunde zog sich quer über die rechte Augenbraue und maß sicher zwei Zentimeter. Aber das war jetzt nebensächlich, viel wichtiger war, wie sie hierherkam. Denn auch wenn ihre Erinnerung nur vage und verschwommen war, eines wusste sie mit Sicherheit: Sie war gestürzt … ins Bodenlose. Verunsichert sah sie zu Jack, der keinerlei Aufregung zeigte, sondern sich, auf dem Fußboden ausgestreckt, in aller Ruhe über ihr Kopfkissen hermachte. War es möglich, dass sie nur geträumt hatte? Die Wunde an ihrer Stirn ließ diese Version allerdings recht abwegig
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