Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
erscheinen, doch dass sie schlaftrunken über die Schnur der Stehlampe gestolpert und sich so die Verletzung zugezogen hatte, war eine reale Möglichkeit. Und es war genau das, was sie jetzt dringend brauchte. Beruhigung! Ihre Beine fühlten sich zwar wacklig an, der Kopf brummte, und das Rinnsal aus der Wunde lief nun genau in ihr rechtes Auge, aber sie war gewillt, es bis zur Küche zu schaffen. Ein starker, süßer Kaffee würde die Welt anders aussehen lassen, und der Blick zur Uhr tröstete ungemein. In zwei Stunden brach der Tag an.
22.
Harris’ Büro war leer, aber da die Tür nicht verschlossen war, würde er sicher jeden Moment zurückkehren. Alexandra ließ sich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen und griff nach der halbvollen Tasse Kaffee. Die Wärme des Porzellans deutete darauf hin, dass die Tasse eben erst abgestellt worden war. Ohne darüber nachzudenken, setzte sie den Kaffee an ihre Lippen und trank.
»Es ist zwar meiner, aber trinken Sie ruhig«, hörte sie hinter sich eine Stimme, worauf sie sich gewaltig verschluckte und den Kaffee quer über Harris’ Schreibtisch prustete. »Herrje, ich meinte doch nur, dass es mein Kaffee ist, ich wollte Sie nicht damit umbringen.«
Hustend und nach Luft ringend spürte Alexandra plötzlich zwei Hände an ihren Schultern, die sie trotz ihrer Gegenwehr energisch nach oben zogen und ihr dann kraftvoll auf den Rücken schlugen. »Geht’s wieder?« Sie machte zunächst einen großen Schritt nach vorn, um aus der Reichweite der fremden Hände zu kommen, erst dann drehte sie sich um. »Lassen Sie das!«
Hauptkommissar Schneider war zu sehr Macho, als dass ihn Alexandras Zurechtweisung beeindrucken konnte, also lächelte er selbstgefällig und hob die Hände nach oben, als wäre eine Waffe auf ihn gerichtet. »Kein Problem«, sagte er und schlenderte mit erhobenen Händen hinter den Schreibtisch. Dort ließ er sich galant in den Sessel fallen, verzog kurz das Gesicht, als sich die Metallstreben in seinen Rücken bohrten, und lächelte dann wieder in gewohnt süffisanter Manier.
»Ihr Freund erzählte mir …«, weiter kam er nicht.
»Wenn Sie Harris Zimmering meinen, er ist ein Bekannter«, unterbrach Alexandra ihn gereizt.
»Ihr Bekannter erzählte mir, dass Sie jetzt im alten Bahnhof wohnen. Ist das nicht ein bisschen einsam, so als … junge Frau?«
»Was auch immer Sie damit meinen, Einsamkeit kommt nicht von Alleinsein.«
»Wow, eine Philosophin.«
Nach kurzem Klopfen öffnete sich die Tür, und ein junger Beamter steckte den Kopf herein. »Die von der Spurensicherung haben ein zweites schwarzes Haar gefunden. Sie untersuchen’s grade. Der Länge nach zu urteilen könnte es von derselben Person stammen wie …«
»Der Länge nach!«, unterbrach Schneider ihn spöttisch. »Seit wann ziehen wir Schlüsse aus der Länge von Haaren?«
»Ich sag’s ja bloß«, entschuldigte sich der Beamte kleinlaut, zog schnell seinen Kopf aus der Tür und schloss sie geräuschlos.
»Spekulationen!«, murmelte Schneider, dann blieb sein Blick an einem Blatt auf Harris’ Schreibtisch hängen. Er zog ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche, wischte mit einem nachsichtigen Lächeln die Kaffeetropfen vom Papier und begann zu lesen. Ganz plötzlich verzerrten sich seine Mundwinkel, sein Gesicht wurde kreidebleich. »Das glaube ich nicht!«, presste er hervor, riss das Blatt vom Tisch und verließ schnellen Schrittes das Büro. Wenige Sekunden später hörte Alexandra ihn brüllen. »Was in aller Welt ist in Sie gefahren, Zimmering! Wieso kriege ich diese Ergebnisse nicht in der gleichen Sekunde, in der das Scheißfax sie ausspuckt? Sind Sie wahnsinnig? Dieses Fax ist zwei Tage alt! Wissen Sie, was das bedeutet?«
Harris’ Antwort war zu leise, um sie zu verstehen, Schneider hingegen wurde noch lauter. »Sie sind gefeuert, Sie Arschloch! Jetzt, sofort! Hauen Sie ab, gehen Sie mir aus den Augen!«
Energische Schritte näherten sich, die Tür flog auf, und Schneider kam wieder hereingestürmt. »Tun Sie mir einen Gefallen, nehmen Sie Ihren Bekannten und gehen Sie Kaffee trinken.«
Als Alexandra nicht reagierte, flippte er völlig aus. »Spreche ich zu undeutlich?«, brüllte er, packte sie am Oberarm, schob sie aus dem Zimmer und stellte sie vor Harris, der noch immer wie angenagelt auf dem Flur stand. Alexandra sah ein, dass es keinen Sinn hatte, sich körperlich zu wehren, und schon gar nicht, in irgendeiner Form verbal zu reagieren. Also hakte sie sich
Weitere Kostenlose Bücher