Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
Tastatur unter Schneiders Händen.
»Es scheint Ruhe zu herrschen«, sagte Harris und fing mit einer schnellen Handbewegung das gerade pausierende Insekt am Rand der Tischkante.
Wie von der Tarantel gestochen schoss Schneider hinter dem Computer hervor. »Merken Sie sich eins für die Zukunft. ›Scheint‹ ist ein Wort, das in meinem Sprachgebrauch nicht vorkommt.«
Es war unklar, was Schneider so in Rage brachte, aber da Freitag war, endete an diesem Tag das von oben gestellte Ultimatum an ihn. Harris’ Hoffnung, Schneider würde nach der gemeinsam durchzechten Nacht anders mit ihm umgehen, war schon am Morgen des nächsten Tages zerschlagen worden, denn sein Chef hatte schnell zu der gewohnt scharfen Art zurückgefunden.
»Könnte es nicht sein, dass er aufgehört hat?«, stellte Harris die Frage nun anders und hoffte auf eine Reaktion. Seit der Sache mit dem Fax, die ihn zwar letztlich nicht den Job gekostet, aber doch einigen Ärger eingebracht hatte, versuchte Schneider ihn aus dem Fall rauszuhalten, indem er weniger inhaltlich mit Harris kommunizierte, sondern nur noch Anweisungen gab. Ganz sicher enthielt er ihm nun wichtige Informationen vor. Entweder fürchtete er derartige Alleingänge wie das Aufspüren von Theresias Leiche, oder aber er hatte Wind davon bekommen, dass Harris Robert zu schützen versuchte. Letzteres war allerdings unwahrscheinlich, denn Alexandra war die Einzige, die von der Sache mit dem Shirt wusste. Wider Erwarten tobte Schneider nicht, sondern wandte sich mit ungewohnt ruhiger Stimme an ihn.
»Wenn jemand so viel Zeit damit verbringt, seine Opfer zu verstümmeln, sie zu positionieren, zu inszenieren, dann tut er das aus einem inneren Drang heraus. Dann kann er nicht einfach damit aufhören.«
Schneiders veränderter Ton ermutigte Harris, Alexandras Entdeckung, was Dirks Linkshändigkeit betraf, an dieser Stelle an den Mann zu bringen, er musste lediglich verschweigen, dass er es bereits am Vortag erfahren hatte.
»Dirk Schumann ist übrigens auch Linkshänder«, sagte Harris beiläufig.
Schneider hob erstaunt die Brauen. »Wieso sagen Sie mir das erst jetzt?«
»Ich wusste es selbst nicht. Alexandra Fischer hat es mirerzählt. Sie hat ihm etwas zugeworfen, und er hat es mit links aufgefangen.«
»Ihre Bekannte«, es war das erste Mal, dass Schneider dieses Wort nicht anzüglich betonte, »ist die Verhaltenstherapeutin oder …?«
»Sie ist Linkshänderin«, sagte Harris.
»Ach!«, entfuhr es Schneider. »Bin ich hier umgeben von Linkshändern? Na so ein Zufall! Wieso ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
»Keine Ahnung«, gab Harris offen zu. »Ich meinte mich zu erinnern, dass Dirk Schumann mit rechts schreibt.«
Eine Weile herrschte Stille. Schneider war wieder hinter seinen Computer verschwunden, Harris tat, als ob er las. Es wunderte ihn, dass Alexandras scharfsinnige Beobachtung keine ermittlungstechnische Relevanz haben sollte. Schließlich zählte Dirk noch immer zum Kreis der Verdächtigen.
»Soll ich Dirk Schumann herbestellen?«, schlug Harris nach einer Weile vor.
»Moment!«, hörte er Schneider hinter dem Bildschirm murmeln. »Hier! Ich lese Ihnen mal was vor. Man hat herausgefunden, dass sich bei umerzogenen Linkshändern häufig negative Begleiterscheinungen zeigen, nicht selten sind das psychische Probleme, Gedächtnis- oder Sprachstörungen, zum Beispiel Stottern … bis hin zum Bettnässen. Die Wissenschaftler streiten noch darüber, ob es ein Gen gibt, das für Linkshändigkeit verantwortlich ist. Und da nur etwa zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung Linkshänder sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide Brüder diese Abweichung haben, relativ gering.«
»Es könnte also sein, dass Dirk Schumann gar kein Linkshänder ist?«
»Dirk schon, aber Robert Schumann nicht. Wenn nämlich Linkshändigkeit und Stottern zusammenhängen, dann ist Dirk Schumann der wahrscheinlichere Kandidat.«
Harris schüttelte den Kopf. »Ich war dabei, als die Eltern es Robert abtrainierten. Stundenlang haben wir als Erstklässler in der Bude gehockt, weil Robert mit rechts schreiben lernen sollte. Danach ging’s raus, und ich musste ihm so lange den Ball zuwerfen, bis er ihn mit rechts fing. Robert ist Linkshänder, dafür würd ich meinen Arsch verwetten!«
»Na gut, aber dann sollten Sie ihn vielleicht nicht länger verteidigen! Der Gerichtsmediziner hat nämlich inzwischen zweifelsfrei bewiesen, dass die Schnitte an den Ermordeten mit links ausgeführt wurden.
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