Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
wohl so sein. Deswegen schlief Schneider seit Wochen in seinem Büro, warf Handys gegen die Wand und lehnte Geburtstagsfeiern bei den Schwiegereltern ab. Mit einem Mal tat er Harris leid. Um nicht respektlos zu erscheinen, wechselte er schnell das Thema.
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, es Ihnen vorzuspielen, aber es ist wichtig, dass Sie es hören.« Harris holte sein Handy aus der Hosentasche, rief seine Mailbox an und hielt es Schneider hin. »Dieser Anruf kam gegen zehn.«
Schneider hob langsam den Kopf.
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« Harris wagte etwas, was bis vor wenigen Minuten noch unvorstellbar gewesen wäre. Er klopfte Schneider auf die Schulter und hielt ihm sein Handy direkt ans Ohr. »Hören Sie sich das an.«
Schneiders Mimik wechselte im Sekundentakt. »Wieso sind Sie nicht rangegangen?«, fragte er, nachdem er die Nachricht zu Ende gehört hatte.
»Funkloch. Ich habe es erst heute Morgen abgehört.«
»Na ja, wie’s aussieht, wären Sie in jedem Fall zu spät gekommen. Was kann sie gemeint haben mit: Es ist dieser …? Sie lässt jemanden in ihre Wohnung, und dann fällt ihr der Name nicht ein?«
Schneider wurde durch einen Wagen, dessen quietschende Reifen schwarze Spuren auf dem Gehweg hinterließen, abgelenkt. Das Auto hielt wenige Meter von ihnen entfernt. Bis dahin hatte Schneider es mit den Augen verfolgt, als sich jedoch die Türen öffneten und zwei hochgewachsene Männer ausstiegen, machte er auf dem Absatz kehrt. »Ich hab zu tun«, raunte er Harris zu. »Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie mit dem Arschloch. Der mit der Sonnenbrille … ist Sünkeberg.«
Harris nickte und lief dann langsam auf die Beamten zu. Schon aus der Entfernung war klar erkennbar, warum Frau Schneiders Wahl auf Sünkeberg gefallen war. Schlank und athletisch, maß er gut zwei Köpfe mehr als Schneider, sein Gang passte auf jeden Laufsteg, und die Klamotten kaufte er sicher nicht in einem billigen Kaufhaus. Es würde schwer werden, Schneider im Vergleich mit diesem Sonnyboy wieder aufzubauen.
»Ich muss Schneider sprechen. Wo finde ich ihn?«, fragte Kommissar Sünkeberg, kaum dass sie voreinanderstanden.
»Auf dem Klo. Dauert ’ne Weile. Irgendwas von letzter Nacht muss ihm wohl auf den Magen geschlagen sein. Wenn’s dringend ist, soll’n Sie’s mir sagen.«
Sünkeberg musterte ihn von oben bis unten.
»Der Dorfsheriff, nicht wahr? Schon viel von Ihnen gehört!«
»Und Sie sind Sünkeberg. Ebenfalls viel von Ihnen gehört.«
Sünkeberg verzog den Mund und spuckte seitlich von Harris auf die Erde.
»Seien Sie so freundlich und holen Sie Schneider her!«
»Bedaure. Ich gehöre zum Fußvolk, wie Sie selbst sagten.Die oberen Etagen, inklusive der Toiletten, sind mir leider verschlossen.«
»Ein kleiner Scherzbold, wie süß! Na ja, muss es auch geben. Okay. Dann sagen Sie Schneider, dass wir was gefunden haben. Wenn er mehr wissen will, muss er schon selbst kommen.«
Voller Schadenfreude stellte Harris fest, dass auch Sünkeberg die Auseinandersetzung mit Schneider nicht unbeschadet überstanden hatte, denn er setzte unvorsichtigerweise einen Moment zu früh seine Sonnenbrille ab. Für Harris’ Geschmack stand ihm das blaue Auge ausgesprochen gut. »Gute Besserung!«, schickte Harris ihm nach und erntete für diese Unverfrorenheit Sünkebergs Mittelfinger.
Da abzusehen war, dass Schneider nicht wieder auftauchen würde, lief Harris ins Haus zurück. Schneider stand mit einem Mann um die sechzig, dessen ausgebeulte Trainingshosen partout nicht zu seinem akkurat gebügelten Hemd passten, auf dem Treppenabsatz vor Claudias Wohnung.
»Wann, sagten Sie, hat es geklingelt?«, fragte Schneider, las das Namensschild des Nachbarn und kritzelte »Dohle« auf seinen Notizblock.
»21.47 Uhr.«
»Siebenundvierzig?«
Der Mann nickte übertrieben, während er mit beiden Händen versuchte, sein Hemd am Rücken in die abgenutzte Hose zu stecken.
»Ich hab auf die Uhr gesehen. Das mache ich immer. Manchmal klingelt’s nämlich auch nachts um drei! Und dann, so kurz nach zehn, höre ich, wie die Tür geht. Hier!« Er zeigte auf seinen Türspion. »Hat schon gute Dienste geleistet. Na ja, ich guck also durch, und da sehe ich, wie eine Frau mit langen, schwarzen Haaren die Tür abschließt. Frau Bormann war da wahrscheinlich schon die Treppe runter. Dachte ich. Aber jetzt kommt’s!« Wieder stopfte er an seinem Hosenbundherum. Sei es, dass ihn sein herausgerutschtes Hemd tatsächlich störte
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