Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
jemand allzu deutlich zu den Spuren.«
Alles hätte Harris erwartet: eine Auswertung unter Männern, was den Erzfeind Sünkeberg betraf, Freudensprünge, dass sie nun endlich eine heiße Spur hatten. Nur das nicht, was Schneider da von sich gab. Dementsprechend war Harris’ Reaktion totale Verblüffung. Schneider starrte weiter geradeaus, während er redete.
»Wir sind ihm auf den Leim gegangen, von Anfang an. Das Shirt im Müll, die Scheißlinkshändigkeit, die sich ja nicht aufs Schreiben, sondern nur auf Messerschnitte stützt, jetzt diese Perücke. Selbst die Aussage des Videos ist vage.«
33.
Der Wetterbericht verhieß nichts Gutes, vielmehr prophezeite er weiterhin anhaltende Regenfälle, die von einem ausgedehnten Tiefdruckgebiet über ganz Osteuropa genährt wurden. Die unmittelbare Nähe zur Oder veranlasste die Dorfbewohner zu abenteuerlichen Spekulationen darüber, wann die Flut ihren Höchststand erreichen und welcher Damm am ehesten brechen würde. Offiziell warnte man zwar vor Panikmache, aber die Sandsäcke, die sich inzwischen an jedem erdenklichen Zaun des Dorfes stapelten, und neuerstellte Evakuierungspläne lehrten Alexandra das Gegenteil. Auch kamen die Dorfbewohner inzwischen fast täglich an den Grenzfluss, bangend, dass die Dämme dem anschwellenden Strom nicht standhalten würden. Zahlreiche Biber, die sich zur Freude der Naturschützer in der Gegend angesiedelt hatten, durchlöcherten die Deiche und sorgten damit für deren Instabilität. Sollten die Dämme brechen, würde das Wasser dem Lauf der alten Oder folgen und weite Gebiete des tiefer gelegenen Umlandes überfluten. Alexandra, die bis zu diesem Zeitpunkt Derartiges nur aus dem Fernsehen kannte, vermutete plötzlich, dass ihr Haus einer der Kollateralschäden aus dem Jahr 1997 war, als man die Polderflächen des unteren Odertals flutete. Sicher würde sie bei genauerem Betrachten der Kellerräume die Wasserstände der letzten Überflutungen erkennen können, und wahrscheinlich war das auch der Grund, warum es so billig zu mieten war. Ihre Erfahrungen bezüglich vorkehrender Schutzmaßnahmen waren gleich null, und so war sie darauf angewiesen, dass man sie rechtzeitig darüber informierte, wann es für sie gefährlich werden würde. Die Aussicht,auf dem Dach eines vom Wasser eingeschlossenen Hauses zu sitzen, war schlichtweg katastrophal. Aber noch war es nicht so weit.
Familie Anders wollte unter keinen Umständen Alexandras Bezahlung für die Nacht annehmen. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen stand das betagte Ehepaar vor ihr und schüttelte synchron den Kopf. »Lassen Sie’s gut sein, junge Frau. Wir haben das gern gemacht.«
»Es schläft sich ausgesprochen gut auf der Couch, und das Frühstück, na ja, hat den Morgen gar nicht erlebt. Nutella ist nämlich mit Abstand das Beste, was Sie mir zukommen lassen konnten. Ich hoffe, es war richtig, das Bett abzuziehen«, sagte Alexandra, der ein simples Danke einfach zu wenig erschien. In diesem Moment hielt ein Auto mit Berliner Kennzeichen direkt neben ihnen, was Frau Anders in leise Jubeltöne ausbrechen ließ. Alexandra war augenblicklich zur Nebensache geworden, denn Frau Anders rannte in kleinen Trippelschritten auf die hintere Autotür zu und rüttelte am Griff. »Hach, diese neuen Autos! Nun mach schon auf, Kindchen!«
Kaum dass der Teenager mit der Punkerfrisur vom Rücksitz gesprungen war, wurde sein Gesicht über und über mit Küssen bedeckt. Die alte Frau schien das genervte Gesicht des Jungen nicht zu bemerken, der sich vergeblich gegen die Liebesbekundungen zu wehren versuchte. »Oma!«, murrte der Teenie schließlich und hielt schützend seine Hände über die hochgestylten Haare. Herr Anders klopfte Alexandra auf die Schulter und lächelte entschuldigend. »Abgemeldet. Ab jetzt zählt nur noch das Enkelkind.«
»Schon in Ordnung. Ich muss auch los. Wie gesagt, vielen Dank.«
Herr Anders betrachtete, während er ihr die Hand schüttelte, mit skeptischer Miene die schwarzen Wolken, die sich am Horizont zu einem riesigen Haufen zusammenzogen. »Siewerden wohl nicht trockenen Fußes bis zur Bushaltestelle kommen.«
Da sie bisher nichts über den Grund ihrer Übernachtung gesagt hatte, vermied sie auch jetzt zu erwähnen, dass ihr Ziel nicht eine Bushaltestelle, sondern vielmehr der alte Bahnhof im Wald sein würde.
»Geb’s Gott, dass es nicht so schlimm wie 97 wird«, sagte Herr Anders schon im Umdrehen und lief dann ebenfalls zum Auto, um seinen Sohn zu
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