Nachts wenn der Teufel kam
unterließ es schließlich. Am nächsten Morgen erfuhr sie, daß Frieda bestialisch ermordet worden sei.
Die blasse Frau erschrak zu Tode. Brunos Erzählung und die Blutflecke im Gesicht fielen ihr ein. Und die Befürchtung, die sie schon seit Tagen hegte.
Frau Lüdke sprach kein Wort darüber. Ob sie nur einen Verdacht hatte oder mit Sicherheit wußte, daß ihr Sohn der Mörder ihrer Verwandten ist, erfuhr niemand. Vier Tage lang geisterte Frau Emma Lüdke, geborene Loff, wie ein Gespenst im Haus herum. Sie redete nachts im Schlaf wirr vor sich hin. Die Familie rief den Hausarzt.
»Das Herz ist bedenklich schwach«, stellte er fest, »aber sie ist organisch gesund. Sie muß einen Schock erlitten haben, anders kann ich es mir nicht erklären. Eine Nervenkrise. Ist denn etwas Besonderes vorgefallen?«
»Nein«, antwortete die Familie.
Nach vier Tagen starb Frau Lüdke.
Ob der Tod ihr die Barmherzigkeit erwies, die Untaten ihres Sohnes nicht erfahren zu müssen, oder ob sie in Kenntnis dieser Untaten sich vergiftete, ist niemals geklärt worden. Man trug sie am 4. Februar 1943 zu Grabe. Der Zufall wollte es, daß Frau Frieda Rösner fast um die gleiche Zeit bestattet wurde, eine halbe Stunde vor ihr.
Die Bekannten, die Nachbarn, die Kunden folgen dem Sarg von Emma Lüdke. Jeder schätzte die stille, fleißige Frau, die mit so viel Geschick ihr Geschäft durch die Wirren der Zeit steuerte und tapfer den Schmerz ihres Lebens ertrug: ihren Sohn Bruno.
Bruno steht mit gefalteten Händen ganz dicht am Grab. Zwischen seinen Schwestern. Wenn man ihn so sieht, im dunkelblauen Anzug mit schwarzer Krawatte, mit ernstem, blassem Gesicht, macht er einen halbwegs guten Eindruck. Man merkt ihm nicht an, daß er ein Tölpel ist. Ein paar Mal fährt er sich mit der Hand über die Augen, als ob er weinen würde. Nein, er weint tatsächlich. Er hing an seiner Mutter, das weiß doch jeder. Sie war die einzige, die, wenn auch immer nur für kurze Zeit, ihn halbwegs beeinflussen konnte.
»Vater unser …«, beten die Leute am Grab. Der Pfarrer spricht ruhig und sachlich, frei von falschem Pathos.
Dann läßt man den Sarg in das offene Grab hinab, wirft Erde darauf.
Das Trauergefolge zerstreut sich. Nur ein paar ganz nahe Angehörige der Verstorbenen bleiben noch. Unter ihnen Bruno, der einzige Sohn, das Schmerzenskind, der Jüngste der Familie.
Vier, fünf Zeugen bemerken etwas Merkwürdiges.
Sie sehen, wie er aus einem der am Grab seiner Mutter niedergelegten Kränze ein paar Blumen zieht und damit auf ein anderes frisches Grab zugeht. Auf das Grab Frieda Rösners.
Er legt die Blumen nieder und bleibt mit gekreuzten Händen stehen, als ob er beten würde.
Wie sollten siewissen, daß ein Mörder am Grab seines Opfers steht und die Ungeheuerlichkeit besitzt, es noch mit Blumen zu schmücken.
Kriminalkommissar Franz kommt bei seinen Ermittlungen nur langsam voran. Zunächst kann er nur eines tun: die von ihm getroffene engere Auswahl möglicher Täter zu den Akten zu legen. Sie wurden alle gewissenhaft überprüft, und sie alle können mit dem Mord nichts zu tun haben.
Da wäre man nun also so weit wie immer. Nach scheinbaren Anfangserfolgen: der Misserfolg. Nach tagelanger hektischer Fahndung: die Resignation.
Aber der junge Beamte resigniert nicht. Wenn er unter den wegen Sittlichkeitsverbrechen vorbestraften Männern den Mörder nicht fand, dann muß er eben unter anderen Aktenzeichen zu finden sein. Für Kriminalkommissar Franz ist kein Dossier zu verstaubt und liegt kein Fall zu weit zurück, als daß er ihn nicht zu Vergleichszwecken heranzöge. So kommt es tagtäglich zu einem grotesken Aufmarsch vor dem Polizeiamt Köpenick. Selbst die Betrüger läßt der Chef der Mordkommission antreten. Seine Mitarbeiter stöhnen oder lächeln schadenfroh.
Franz isst kaum, schläft so gut wie gar nicht mehr. Und er läßt sich durch die ständigen Misserfolge nicht entmutigen.
Doch ein manierlicher Bursche, denken die Leute, doch nicht so schlimm. Er ist gutmütig. Er hat wenigstens Herz.
Bevor die Verdächtigen in sein Büro geführt werden, trägt ein mit den Ortsverhältnissen vertrauter Beamter jeweils kurz vor, wegen welcher Delikte der Eintretende bestraft wurde.
»Erwin Geiger«, sagt der Kriminalsekretär. »1932 mit sieben Jahren Zuchthaus wegen Totschlags bestraft. Motiv: Eifersucht. Ist seit 1939 verheiratet. Zwei Kinder. Nichts Nachteiliges bekannt.«
»Gut«, erwidert Franz. »Nehmen Sie Platz«, sagt er dann
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