Nachts
(hatte diesen Sturm im Wasserglas aber viel besser unter Kontrolle), als er gegenüber der Bibliothek am Straßenrand parkte. Die Droschkenlaternen, welche den Haupteingang flankierten, waren eingeschaltet und warfen einen weichen weißlichen Schein auf die Stufen und die Granitfassade des Gebäudes. Der Abend verlieh dem Bauwerk eine gütige und herzliche Atmosphäre, die es bei seinem ersten Besuch eindeutig nicht gehabt hatte vielleicht lag es aber auch nur daran, daß der Frühling mittlerweile eindeutig seinen Einzug hielt, was an jenem verhangenen Märztag, als er den Drachen, der hier hauste, zum erstenmal gesehen hatte, eindeutig nicht der Fall gewesen war. Das abwe isende Gesicht des steinernen Roboters war dahin. Es war wieder nur eine öffentliche Bibliothek.
Sam wollte aus dem Auto steigen, dann verharrte er. Ihm war eine Erleuchtung gewährt worden; jetzt hatte er plötzlich noch eine.
Das Gesicht der Frau auf dem Plakat von Dirty Dave fiel ihm wieder ein; die Frau mit dem Teller voll Brathähnchen. Die Dave Sarah genannt hatte. Diese Frau war Sam bekannt vorgekommen; plötzlich schloß sich ein obskurer Stromkreis in seinem Gehirn: Es war Naomi Higgins.
2
Auf der Treppe überholte er zwei Kinder in JCHSJacken und erwischte die Tür, ehe sie wieder ganz zufallen konnte. Er betrat das Foyer. Als erstes fiel ihm der Lärm auf. Im Lesesaal jenseits der Marmorstufen war es keinesfalls ungebührlich laut, aber er war auch nicht die ruhige Oase des Schweigens, die Sam am Freitagnachmittag vor über einer Woche begrüßt hatte.
Nun, heute ist Samstagabend, dachte Sam. Es sind Kinder hier, die wahrscheinlicher Klassenarbeiten lernen.
Aber würde Ardelia dieses Schwatzen du lden, wie gedämpft es auch sein mochte? Die Antwort schien ja zu sein, dem Lärm nach zu urteilen, aber es schien eindeutig nicht zu ihr zu passen.
Das Zweite hatte etwas mit dem knappen Befehl zu schweigen zu tun, welcher auf der Staffelei zu lesen gewesen war: RUHE!
Das Schild war nicht mehr da. An seiner Stelle befand sich ein Bild von Thomas Jefferson. Darunter stand folgendes Zitat:
»Ich kann ohne Bücher nicht leben.«
Thomas Jefferson (in einem Brief an John Adams) vom 10. Juni 1815
Sam betrachtete das alles einen Moment und dachte bei sich, daß dieser kleine Unterschied die Atmosphäre völlig veränderte, wenn man sich anschickte, die Bibliothek zu betreten.
RUHE!
erzeugte Gefühle wie Schüchternheit und Unbehagen (wenn einem zum Beispiel der Magen knurrte oder man merkte, daß ein Anfall nicht notwendigerweise lautloser Blähungen bevorstand).
»Ich kann ohne Bücher nicht leben«,
dagegen löste Empfindungen wie Entspannung und Vorfreude aus
man fühlte sich so, wie hungrigen Männern und Frauen zumute ist, wenn das Essen endlich gebracht wird.
Sam rätselte noch darüber, wie solch eine Kleinigkeit eine so gewaltige Veränderung bewirken konnte, als er die Bibliothek betrat und wie vom Donner gerührt stehenblieb.
3
Im Hauptsaal war es viel heller als b ei seinem ersten Besuch, aber das war nur eine Veränderung von vielen. Die Leitern, welche sich zu den vagen Höhen der höchsten Regale erstreckt hatten, waren verschwunden. Es bestand keine Notwendigkeit mehr für sie, da die Decke sich nur noch zweieinhalb bis drei Meter über dem Boden befand, statt neun oder zehn. Wollte man ein Buch von einem der oberen Regale holen, mußte man dazu nur einen der zahlrei
chen Hocker nehmen, die überall verteilt standen. Die Zeitschrif
ten waren einladend im Halbkreis auf einem großen Tisch beim Ausgabetresen verteilt. Das Eichenregal, von dem sie wie die Häute toter Tiere gehangen hatten, war nicht mehr da, ebensowe
nig das Schild mit der Aufschrift
ZEITSCHRIFTEN WIEDER RICHTIG EINORDNEN!
Das Regal mit Neuerscheinungen war noch da, aber das Schild mit der siebentägigen Ausleihfrist war von einem ersetzt worden, auf dem stand:
LIES EINEN BESTSELLER NUR SO ZUM SPASS!
Leute hauptsächlich junge Leute kamen und gingen und unter
hielten sich gedämpft. Jemand kicherte. Es war ein entspannter, beiläufiger Laut.
Sam sah zur Decke hinauf und versuchte verzweifelt aufzuklä
ren, was hier passiert war. Die schrägen Oberlichter waren nicht mehr da. Der obere Bereich des Saales war mittels einer modernen Schwebedecke verborgen. Die altmodischen kugelförmigen Leuchten hatten Neonröhren weichen müssen, welche in die neue Decke eingelassen worden waren.
Eine Frau, die mit einer Handvoll Krimis zum
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