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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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die Mensa auf einmal verschwunden und an ihre Stelle ein nebelumhülltes Panorama von Mooren, Eiben und vielleicht einem Druidenkreis oder einem funkelnden Feenring getreten war.
    Die Musikbox spielte in jenem Jahr »Love Is Blue« … Sie spielte immer und immer wieder »Hey, Jude«, und sie spielte »Scarborough Fair«.
    Und um zehn Minuten nach elf an jenem Abend begann John Dancey, ein Student aus dem ersten Semester, der auf dem Weg zu seinem Schlafsaal war, in den Nebel zu schreien und ließ seine Bücher auf und zwischen die gespreizten Beine des toten Mädchens fallen, das in einer dunklen Ecke des Parkplatzes vor der veterinärmedizinischen Fakultät lag. Ihre Kehle war von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt, aber ihre Augen waren offen und schienen fast zu blitzen, als ob sie gerade jemandem den besten Streich ihres jungen Lebens gespielt hätte - Dancey, mit Hauptfach Pädagogik und Nebenfach Sprachwissenschaft, schrie und schrie und schrie.
    Der folgende Tag war düster und bedeckt, und wir gingen mit einer Reihe neugieriger Fragen auf der Zunge in unsere Klassen - Wer? Warum? Wann sie ihn wohl kriegen werden?
    Und zuletzt immer die spannende Frage: Hast du sie gekannt?
    Hast du sie gekannt?
    Ja, sie war mit mir zusammen in einem Kurs.
    Ja, ein Freund meines Zimmergenossen ist letztes Semester mal mit ihr ausgegangen.
    Ja, sie hat mich mal in der Mensa um Feuer gebeten. Sie saß am Nebentisch.
    Ja,
    Ja, ich
    Ja …’ja … o ja, ich
    Wir kannten sie alle. Sie hieß Gale Cerman (ausgesprochen Kerrmen) und studierte Sprachwissenschaft. Sie trug eine runde Nickelbrille und hatte eine gute Figur. Sie war beliebt, aber ihre Zimmergenossinnen hatten sie gehaßt. Sie war selten ausgegangen, obwohl sie eins der leichtesten Mädchen auf dem Campus gewesen war. Sie war häßlich, aber süß. Sie war ein lebhaftes Mädchen gewesen, das wenig sprach und selten lächelte. Sie war schwanger gewesen und hatte Leukämie gehabt. Sie war eine Lesbierin, die von ihrem Freund ermordet worden war. Es war Erdbeerfrühling, und am Morgen des 17. März kannten wir alle Gale Cerman.
    Ein halbes Dutzend Polizeifahrzeuge trafen auf dem Campus ein, die meisten von ihnen parkten vor der Judith Franklin Hall, wo die Cerman gewohnt hatte. Auf dem Weg zu meinem Zehn-Uhr-Kurs kam ich daran vorbei und wurde prompt nach meinem Studentenausweis gefragt.
    »Haben Sie ein Messer bei sich?« fragte der Polizist listig.
    »Geht es um Gale Cerman?« wollte ich wissen, nachdem ich ihm erklärt hatte, daß das einzige an mir aus Metall meine Gürtelschnalle war.
    »Wie kommen Sie darauf?« Er schien eine Spur zu wittern.
    Ich kam fünf Minuten zu spät zum Unterricht.
    Es war Erdbeerfrühling, und niemand ging an jenem Abend allein über den halb akademischen, halb phantastischen Campus. Der Nebel war zurückgekommen, dicht und schweigend und begleitet von dem Geruch des Meeres.
    Gegen neun kam mein Zimmergenosse in unseren Raum gestürmt, wo ich mich seit sieben mit einem Aufsatz über Milton herumschlug. »Sie haben ihn«, erklärte er. »Ich habe es drüben in der Mensa gehört.«
    »Von wem?«
    »Keine Ahnung. Kenne ihn nicht. Ihr Freund war’s. Er heißt Carl Amalara.«
    Ich lehnte mich zurück, erleichtert und enttäuscht. Bei einem solchen Namen mußte es stimmen. Ein schmutziges kleines Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang.
    »Gut«, sagte ich. »Sehr gut.«
    Er verließ das Zimmer, um die Neuigkeiten zu verbreiten, während ich meinen Milton-Aufsatz noch einmal durchlas, nicht mehr wußte, was ich gerade hatte sagen wollen, und ihn zerriß, um noch einmal von vorn anzufangen.
    Am nächsten Tag stand es in den Zeitungen. Sie zeigten ein unpassend nettes Photo von Amalara - vermutlich ein Photo von seinem High-School-Abschluß, auf dem ein Junge mit einem ziemlich traurigen Gesicht, olivfarbenem Teint, dunklen Augen und Pockennarben auf der Nase zu sehen war. Er hatte noch nicht gestanden, aber das Beweismaterial gegen ihn War schwerwiegend. Er und Gale Cerman hatten in den letzten Wochen ziemlich oft Streit gehabt und sich vor einer Woche getrennt. Amalaras Zimmergenosse hatte ausgesagt, er sei ziemlich niedergeschlagen gewesen. In einer Feldkiste unter seinem Bett hatte die Polizei ein sieben Zoll langes Jagdmesser und ein Bild des Mädchens gefunden, das offensichtlich mit einer Schere zerschnitten worden war.
    Neben dem Photo von Amalara brachten die Zeitungen eins von Gale Cerman. Es war ziemlich undeutlich und zeigte einen

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