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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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flüsterte er.
    Und das Gesicht veränderte sich. Es schien zu schmelzen und ineinanderzulaufen. Die Augen wurden gelb, und eine gräßliche Bösartigkeit grinste ihm aus ihnen entgegen.
    »Ich komme wieder, Jim«, flüsterte die kalte Stimme.
    Und dann war das Etwas verschwunden.
    Jim stand langsam auf und schaltete den Plattenspieler mit einer verstümmelten Hand aus. Er betastete seine Lippen. Sie bluteten von Gardas Schlag. Er ging zur Tür und schaltete das Licht ein. Der Raum war leer. Er blickte hinaus auf den Parkplatz - er war ebenfalls leer, abgesehen von einer einzelnen Radkappe, die den Mond in einer schwachsinnigen Pantomime reflektierte. Die Luft im Klassenzimmer roch alt und muffig - die Atmosphäre von Mausoleen. Er wischte das Pentagramm auf dem Fußboden aus und begann, die Tische für den Vertreter am nächsten Tag zurechtzurücken. Seine Finger schmerzten schlimm - welche Finger? Er würde einen Arzt aufsuchen müssen. Er schloß die Tür und stieg langsam die Treppe hinunter, wobei er seine Hände gegen die Brust hielt. Auf halbem Weg nach unten ließ ihn etwas - in Schatten, oder vielleicht auch nur eine Intuition - herumfahren.
    Etwas Unsichtbares schien zurückzuspringen.
    Jim dachte an die Warnung in Wie man Geister beschwört - an die Gefahr, die darin lag. Man konnte sie vielleicht rufen, sie vielleicht dazu bringen, etwas für einen zu tun. Man konnte sie sogar wieder loswerden.
    Aber manchmal kommen sie wieder.
    Er ging weiter und fragte sich, ob der Alptraum wirklich vorbei war.

 
Erdbeerfrühling
    Der unheimliche Jack …
    Ich las diese drei Worte heute morgen in der Zeitung, und mein Gott, was für Erinnerungen sie in mir wachrufen! Es war vor acht Jahren, fast auf den Tag genau. Einmal war ich dabei sogar im überregionalen Fernsehen - im Walter-Cronkite-Report. Zwar nur als flüchtiges Gesicht in der Menge hinter dem Reporter, aber meine Familie hat mich sofort erkannt und mich angerufen. Dad wollte meine Meinung zu der Situation; er war richtig aufgeschlossen und redete mit mir wie mit einem Erwachsenen. Meine Mutter wollte nur, daß ich nach Hause kam. Aber ich wollte nicht nach Hause, denn ich war fasziniert und gefesselt.
    Ich war gefesselt von jenem dunklen und nebligen Erdbeerfrühling und von dem Schatten des gewaltsamen Todes, der in seinen Nächten vor acht Jahren umging. Der Schatten des unheimlichen Jack. –
    In Neuengland nennen sie es einen Erdbeerfrühling. Niemand weiß, warum; es ist einfach eine Bezeichnung, die von den Alteingesessenen gebraucht wird. Sie sagen, daß es alle acht bis zehn Jahre einmal passiert. Was damals, in jenem Erdbeerfrühling, am New Sharon Teacher’s College passiert ist … auch hier läßt sich vielleicht ein Zyklus finden, aber falls jemand auf diesen Gedanken gekommen ist, wurde er doch nie erwähnt.
    In New Sharon begann der Erdbeerfrühling am 16. März 1968. An jenem Tag war der kälteste Winter seit zwanzig Jahren zu Ende. Es regnete, und man konnte das Meer noch zwanzig Meilen von der Küste entfernt riechen. Der Schnee, der stellenweise fünfunddreißig Zoll hoch gelegen hatte, begann zu schmelzen, und die Campuswege waren völlig aufgeweicht.
    Die Schneeskulpturen vom Winterkarneval, die bei den Minus-temperaturen der letzten zwei Monate unverändert dagestanden hatten, sackten in sich zusammen und zerflossen. Die Karikatur von Präsident Johnson vor dem Studentenheim weinte geschmolzene Tränen, und die Taube vor der Prashner Hall verlor ihre Eisfedern, und stellenweise schimmerte schon traurig ihr Sperrholzskelett durch.
    Mit dem Abend kam der Nebel, der sich lautlos und weiß auf die Straßen und Wege des College-Geländes legte. Wie hochge-reckte Finger schimmerten die Kiefern auf der Promenade durch die Wattewand, und wie Zigarettenrauch trieb der Nebel unter der kleinen Brücke bei den Kanonen aus dem Bürgerkrieg hindurch. Alles schien plötzlich merkwürdig fremd und verzaubert. Arglos kam man aus der vom Lärm der Musikbox erfüllten und hell erleuchteten Mensa ins Freie und erwartete, daß einen die frostige Starre des harten Winters empfing …
    und statt dessen fand man sich plötzlich in einer schweigenden Welt von weißem, dahintreibendem Nebel wieder, die einzigen Geräusche um einen herum die eigenen Schritte und das leise Tropfen von Wasser aus den löchrigen Dachrinnen. Man erwartete fast, irgendwelche Märchengestalten vorbeihuschen zu sehen, oder sich umzudrehen und plötzlich entdecken zu müssen, daß

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