Nachtschicht
bewältigen.
»Stimmt’s?« wiederholte er hartnäckig und lächelte dabei.
Sein gespanntes, beinahe häßliches Gesicht nahm einen seltsam rührenden Zug an. Ihr fiel das Wort »niedlich« ein, kein angemessener Ausdruck, um einen jungen Mann zu beschreiben, aber zu diesem paßte er, wenn er lächelte.
Ungewollt erwiderte sie das Lächeln. Etwas konnte sie bestimmt nicht gebrauchen, nämlich irgendeinen komischen Typ, der sich den ungeeignetsten Zeitpunkt im ganzen Jahr aussuchte, um sich an sie heranzumachen.
Ihn abzuwimmeln, kostete Zeit, und sie mußte sich noch durch sechzehn Kapitel der Einführung in die Soziologie hindurchkämpfen.
»Nein, danke«, entgegnete sie.
»Na, komm schon, wenn du noch mehr büffelst, kriegst du bloß Kopfschmerzen. Du hockst schon seit zwei Stunden ohne Unterbrechung über diesem Buch.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe dich beobachtet«, gab er unumwunden zu. Dieses Mal war sein lausbubenhaftes Grinsen an sie verschwendet. Sie hatte bereits Kopfschmerzen.
»Das läßt du jetzt bitte sein«, versetzte sie schärfer als gewollt. »Ich mag’s nämlich nicht, wenn Leute mich anstarren.«
»Entschuldigung.« Er tat ihr ein bißchen leid, wie ihr manchmal herumstreunende Hunde leid taten. In seiner grünen Drillichjacke schien er zu ertrinken und … jawohl, er hatte zwei verschiedene Socken an. Eine schwarze und eine braune. Am liebsten hätte sie wieder gelächelt, doch sie verbiß es sich.
»Ich muß für eine Klausur lernen«, erklärte sie freundlich.
»Ach so«, erwiderte er. »Na schön.«
Versonnen’sah sie ihm einen Augenblick lang hinterher.
Dann widmete sie sich wieder ihrem Buch, doch etwas von dieser Begegnung blieb in ihrem Gedächtnis haften: Erdbeereis mit Sahne.
Als sie ins Studentenwohnheim zurückkehrte, war es Viertel nach elf. Alice lag auf ihrem Bett, hörte Neu Diamond und las Die Geschichte der O.
»Ich wußte gar nicht, daß dieser Roman auf der Leseliste steht«, witzelte Elizabeth.
Alice richtete sich auf. »Ich erweitere meinen Horizont, Herzchen. Ich breite meine intellektuellen Schwingen aus. Ich verbessere meine … Liz?«
»Hmm?«
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Nein, entschuldige, ich -«
»Du siehst aus, als hättest du einen Schlag auf den Kopf gekriegt, Kind.«
»Ich habe heute abend jemanden kennengelernt. Einen ziemlich merkwürdigen Typ.«
»Ach? Das muß ja ein toller Bursche sein, wenn er dich von deinen geliebten Lehrbüchern losreißen kann.«
»Er heißt Edward Jackson Hamner Junior, man stelle sich vor! Klein. Schmächtig. Sieht aus, als hätte er sich das Haar zum letzten Mal an Washingtons Geburtstag gewaschen. Ach, und zwei verschiedene Socken trägt er. Eine schwarze und eine braune.«
»Ich dachte, du stündest mehr auf den Typ, den man in studentischen Verbindungen trifft.«
»Nein, in dieser Richtung läuft nichts, Alice. Er sprach mich im Studentenhaus an, als ich auf der Dritten saß und lernte, und lud mich zu einem Eis ein. Ich lehnte ab, und er verkrümelte sich.
Doch nachdem er mich erst mal auf die Idee mit dem Eis gebracht hatte, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich beschloß, eine Pause zu machen, und siehe da, er stand vor mir, in jeder Hand ein tropfendes Hörnchen Erdbeereis mit Sahne.«
»Ich brenne darauf, den Ausgang der Geschichte zu erfahren.«
Elizabeth stieß einen schnaubenden Laut aus. »Na ja, jetzt konnte ich ja nicht mehr gut nein sagen. Er setzte sich zu mir, und im Gespräch stellte sich heraus, daß er letztes Jahr bei Professor Branner Soziologie gehört hat.«
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder. O Herr, gib denen, die gläubig zu dir aufblicken -«
»Hör mal, das ist wirklich erstaunlich. Weißt du, wie ich in diesem Seminar geschwitzt habe?«
»Ja. Du sprichst ja noch im Schlaf davon.«
»Ich habe einen Durchschnitt von achtundsiebzig Punkten.
Ich brauche achtzig, wenn ich mein Stipendium weiter behalten das bedeutet, daß ich in der Klausur mindestens vierundachtzig Punkte haben muß. Tja, dieser Ed Hamner behauptet, Branner ließe jedes Jahr fast die gleiche Klausur schreiben. Und Ed ist Eidetiker.«
»Du meinst, er hätte ein … waswardasnochmal … fotografisches Gedächtnis?«
»Ja. Sieh mal.« Sie schlug ihr Soziologiebuch auf und nahm drei beschriebene Heftseiten heraus.
Alice ließ sie sich geben. »Das sieht mir nach Multiple-Choice-Verfahren aus.«
»Das ist es auch. Ed sagt, das sei Wort für Wort Branners Klausur vom vorigen
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