Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
erlebte sie in einer Art Dämmerzustand.
    Aus einem jämmerlich kurzen Zeitungsartikel und Dannys Erzählung bei einem Glas Bier im Harbor Inn fügte sich die Geschichte zusammen.
    Sie hatten auf der Straße 16 Entwässerungskanäle repariert.
    Ein Teil der Fahrbahn war aufgerissen worden, und Tony regelte mit Flaggenzeichen den Verkehr. Ein junger Bursche kam in einem roten Fiat den Hügel hinabgebraust. Tony hatte ihm mit der Flagge Zeichen gegeben, doch der Bengel drosselte nicht mal das Tempo.
    Tony stand neben einem Lastwagen, und für ihn gab es keinen Platz zum Ausweichen. Der Junge in dem Fiat war mit Platzwunden und einem gebrochenen Arm davongekommen.
    Er stand unter Schock, und die Untersuchung ergab, daß er stocknüchtern war. Die Polizei fand mehrere Löcher in den Bremsleitungen, so, als ob sie sich überhitzt hätten und durch geschmolzen wären. Der Junge hatte einfach nicht bremsen können. Ihr Tony war das Opfer eines äußerst seltenen Autounfalls geworden, dessen Ursache nämlich nicht Leichtsinn oder menschliches Versagen, sondern ein echtes Unglück war.
    Ihr schlechtes Gewissen verstärkte den Schock und die Niedergeschlagenheit. Das Schicksal hatte ihr die Entscheidung, was aus ihr und Tony werden sollte, aus der Hand genommen.
    Und eigentlich war sie auf eine klammheimliche Weise froh, daß es so gekommen war. Denn sie hatte Tony nicht heiraten wollen … nicht, seit sie diesen Alptraum gehabt hatte.
    Am Tag vor ihrer Heimreise brach sie zusammen.
    Sie saß allein auf einem Felsvorsprung, und nach etwa einer Stunde kamen die Tränen. Sie war selbst überrascht, mit welcher Heftigkeit sie weinte. Sie weinte, bis ihr der Magen wehtat und der Kopf schmerzte, und als die Tränen versiegten, fühlte sie sich zwar nicht besser, aber wenigstens ausgepumpt und leer.
    In diesem Augenblick hörte sie Ed Hamners Stimme. »Beth?«
    Mit einem Ruck fuhr sie herum. In ihrem Mund spürte sie den metallischen Geschmack der Angst, halb hatte sie erwartet, den zähnefletschenden Wolf aus ihrem Traum zu sehen. Doch es war bloß Ed Hamner. Er war von der Sonne gebräunt, und ohne seine Drillichjacke und seine Bluejeans sah er irgendwie hilflos aus. Er trug rote Shorts, die ihm bis an die knochigen Knie reichten, ein weißes T-Shirt, das sich um seine schmale Brust blähte wie ein Segel im Wind, und Gummisandalen. Er lächelte nicht, und durch die in der Sonne blitzenden Brillengläser konnte sie seine Augen nicht sehen.
    »Ed?« fragte sie zaghaft, halb in der Annahme, er sei eine durch ihren Kummer erzeugte Halluzination. »Bist du es wirklich -«
    »Ja, ich bin’s wirklich.«
    »Wie -«
    »Ich habe im Lakewood Theater in Skowhegan gearbeitet. Ich traf deine Zimmergenossin … sie heißt doch Alice, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Sie erzählte mir, was passiert war. Ich kam sofort hierher. Meine arme Beth.«
    Er legte den Kopf schräg, vielleicht nur um eine Winzigkeit, doch die Sonne schien nicht mehr auf seine Brille. In seinen Augen entdeckte sie nichts Wolfsartiges, nichts Raubtierhaftes, nur ein ruhiges, von Herzen kommendes Mitleid.
    Sie begann wieder zu weinen, und die unerwartete Heftigkeit des Tränenausbruchs schüttelte ihren Körper. Doch dann nahm er sie in die Arme, und sie beruhigte sich. 
    Sie aßen in Waterville zu Abend, der Ort lag fünfundzwanzig Meilen weiter, vielleicht genau die richtige Entfernung, die sie brauchte, um Abstand zu gewinnen. Sie fuhren in Eds Wagen, einem neuen Corvette. Er war ein guter Autofahrer - weder leichtsinnig noch übertrieben vorsichtig, wie sie es sich schon gedacht hatte. Sie wollte keine Unterhaltung, und sie wollte nicht aufgeheitert werden. Er schien das zu wissen und suchte im Radio einen Sender, der ernste Musik spielte.
    Und ohne sie zu fragen, bestellte er - Meeresfrüchte. Sie hatte geglaubt, sie sei nicht hungrig, doch als das Essen kam, fiel sie mit Heißhunger darüber her.
    Als sie wieder aufschaute, war ihr Teller leer, und sie stieß ein nervöses Lachen aus. Ed rauchte eine Zigarette und beobachtete sie.
    »Die trauernde Maid verschlang ein herzhaftes Mahl«, sagte sie. »Du mußt mich ja für eine Heuchlerin halten.«
    »Nein«, entgegnete er. »Du hast eine Menge mitgemacht und mußt jetzt wieder zu Kräften kommen. Das ist so ähnlich wie nach einer überstandenen Krankheit, nicht wahr?«
    »Ja, genauso.«
    Er ergriff ihre Hand, drückte sie kurz und ließ sie dann wieder los. »Aber jetzt beginnt die Zeit der Genesung, Beth.«
    »Meinst du

Weitere Kostenlose Bücher