Nachtschicht
viel, außer, daß mir das Heu in der Nase kitzelte und ich anfing zu niesen und nicht mehr aufhören konnte. Ich rannte hin und her und türmte einen Heuhaufen auf, dort, wo der Fuß der Leiter gewesen war. Es war ein sehr kleiner Heuhaufen. Wenn man ihn und dann Kitty so hoch oben sah, kam einem einer dieser Cartoons in den Sinn, in dem jemand aus hundert Meter Höhe in ein Wasser-gas springt.
Hin und her. Hin und her.
»Larry, ich kann nicht mehr lange halten!« Ihre Stimme klang sehnend und verzweifelt.
»Du mußt, Kitty! Du mußt!«
Hin und her. Heu kratzte in meinem Hemd. Hin und her.
Der Heuhaufen ging mir mittlerweile bis zum Kinn, aber der, in den wir gesprungen waren, war sieben Meter tief. Ich überlegte, daß wir noch Glück hatten, wenn sie sich bloß die Beine brach. Und ich wußte, daß es ihren Tod bedeuten würde, wenn sie den Heuhaufen verfehlte. Hin und her.
»Larry! Die Sprosse! Sie gibt nach!«
Ich konnte den anhaltenden, knirschenden Schrei der Sprosse hören, die sich unter ihrem Gewicht langsam löste. In Panik fing sie wieder zu strampeln an, aber wenn sie so zappelte, würde sie den Haufen mit Sicherheit verfehlen.
»Nein!« brüllte ich. »Nein! Hör auf! Laß los! Laß los, Kitty!«
Es war nämlich zu spät, noch mehr Heu zu holen. Zu spät für alles, außer blind zu hoffen.
Sie ließ sich im selben Augenblick, als ich es ihr sagte, los und fiel pfeilgerade herunter. Mir kam ihr Fall wie eine Ewigkeit vor. Die goldblonden Rattenschwänze standen nach oben ab, ihre Augen waren geschlossen, und ihr Gesicht war totenblaß.
Ihre Hände waren vor ihren Lippen gefaltet, als ob sie betete.
Und sie traf den Heuhaufen genau in der Mitte. Sie tauchte hinein und verschwand - und um sie herum wirbelte das Heu auf, als wäre eine Granate eingeschlagen. Dann hörte ich, wie sie auf den Brettern des Scheunenbodens aufschlug. Das Geräusch, ein dumpfer Schlag, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Es war zu laut gewesen, viel zu laut. Aber ich mußte mich überzeugen.
Mit aufsteigenden Tränen in den Augen sprang ich in das Heu und begann, es auseinanderzureißen und hinter mich zu werfen. Ein Bein in Blue Jeans kam zum Vorschein, dann ein kariertes Hemd … und endlich Kittys Gesicht. Es war leichenblaß, und die Augen waren geschlossen. Sie war tot, das wußte ich, als ich sie ansah. Die Welt wurde grau für mich, grau wie ein Novembertag. Das einzige Farbige in dieser Welt waren noch ihre leuchtend goldblonden Rattenschwänze.
Und das tiefe Blau ihrer Iris, als sie die Augen aufschlug.
»Kitty?« fragte ich heiser und ungläubig. Mein Hals kratzte vom Heustaub.
»Larry?« sagte sie verwirrt. »Bin ich noch am Leben?«
Ich half ihr aus dem Heu und drückte sie, und sie legte ihre Arme um meinen Nacken und drückte mich wieder. »Ja, du bist noch am Leben«, antwortete ich. »Du bist noch am Leben.«
Sie hatte sich den linken Knöchel gebrochen, mehr nicht. Als Dr. Pederson, unser Hausarzt aus Columbia City, mit meinem Vater und mir aus dem Haus in die Scheune kam, sah er lange hinauf in die Dunkelheit.
Die letzte Sprosse der Leiter hing immer noch, an einem einzigen Nagel, schief dort oben.
Wie ich sagte, Dr. Pederson sah sehr lange hinauf. »Es ist ein Wunder«, sagte er zu meinem Vater und trat verächtlich gegen das Heu, das ich aufgestapelt hatte. Dann ging er hinaus zu seinem staubigen Auto und fuhr davon.
Ich fühlte die Hand meines Vaters auf meiner Schulter. »Wir beide gehen jetzt zum Holzschuppen, Larry«, meinte er ganz ruhig. »Ich nehme an, du kannst dir denken, was dort passiert.«
»Ja, Sir«, flüsterte ich.
»Und bei jedem Schlag, Larry, sollst du Gott danken, daß deine Schwester noch lebt.«
»Ja, Sir.«
Dann gingen wir. Er schlug mich sehr oft, so oft, daß ich hinterher eine Woche lang nur im Stehen und danach noch zwei Wochen lang mit einem Kissen auf meinem Stuhl essen konnte. Und jedesmal, wenn er mich mit seiner großen, roten und schwieligen Hand schlug, dankte ich Gott.
Mit lauter, sehr lauter Stimme. Und bei den letzten zwei oder drei Schlägen war ich ziemlich sicher, daß Er mich hörte.
Kurz vor dem Schlafengehen durfte ich zu ihr. Draußen vor ihrem Fenster saß eine Spottdrossel, das weiß ich noch. Ihr Fuß war ganz verbunden und auf einem kleinen Tischchen hochge-legt.
Sie sah mich so lange und .liebevoll an, daß ich verlegen wurde. »Heu«, meinte sie dann. »Du hast Heu hingelegt.«
»Natürlich«, platzte ich heraus. »Was
Weitere Kostenlose Bücher