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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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vorherrschende Farbe war Gelb - ein gelbes Glühen von Narzissen und verspäteten Krokussen, dazwischen Nelken und ein paar Teerosen aus dem Gewächshaus, meist gelbe und weiße.
    Er knabberte an einer Brezel und lauschte dem Gejaule eines Koffersupers, der auf einer Ecke seines Karrens thronte.
    Aus dem Radio quollen schlechte Nachrichten, die keinen interessierten: Der Totschläger mit dem Hammer lief immer noch frei herum; John F. Kennedy hatte erklärt, daß man sehr genau beobachten werde, was in einem kleinen Land in Asien, der Sprecher buchstabierte gerade V-i-e-t-n-a-m, passierte. Eine unbekannte Nackte war aus dem East River gefischt worden; ein Schwurgericht war nicht in der Lage gewesen, einen Paten aus der Heroinszene zu verurteilen; die Russen hatten eine Atombombe gezündet. Nichts schien real, nichts schien irgendwie von Bedeutung zu sein. Die Luft war weich und süß. Zwei Bierbäuche standen vor einer Bäckerei und schnibbelten mit Vierteldollar-Münzen um die Wette. Nach dem Frühling würde der Sommer kommen, und in der Stadt ist der Sommer die Zeit der Träume.
    Der junge Mann ließ den Blumenstand hinter sich, die schlechten Nachrichten versickerten im Rauschen der vorbeifahrenden Autos. Er verlangsamte seinen Schritt, schaute sich um und überlegte kurz. Dann griff er in seine Manteltasche und betastete den Gegenstand darin. Einen Augenblick lang sah er verwirrt aus, einsam, gehetzt, doch dann zog er die Hand wieder aus der Tasche, sein Gesicht war, wie vorher, voll freudiger Erwartung.
    Lächelnd ging er zu dem Blumenstand zurück. Er würde ihr einen Strauß Blumen mitbringen, das würde ihr bestimmt gefallen. Er liebte ihre Augen, wenn sie vor Überraschung und Freude glänzten. Kleine Geschenke genügten dafür, für mehr hatte er auch kein Geld. Eine Schachtel Pralinen, ein billiges Armband, einmal war es nur ein Beutel spanischer Orangen, denn er wußte, daß Norma die am liebsten mochte.
    »Junger Freund …«, sagte der Blumenverkäufer, als der Mann im grauen Anzug zurückkam und seinen Blick über die duftende Auslage in dem Handkarren schweifen ließ. Der Blumenmann war vielleicht Ende Sechzig und trug einen filzigen grauen Pullover und, trotz der angenehmen Temperatur, eine dicke Wollmütze. Sein Gesicht war ein Netz von Falten, seine Augen schwammen auf geschwollenen Tränensäcken, und zwischen seinen gelben Fingern zitterte eine Zigarette.
    Doch auch er kannte das Gefühl: Es ist Frühling, und du bist jung - jung und so verliebt, daß es jeder sehen kann. Der normale Gesichtsausdruck des Verkäufers war mißmutig und gelangweilt, doch jetzt lächelte er ein wenig, genau wie die alte Frau mit ihren Einkaufstüten, so deutlich sah man es diesem jungen Mann an. Er wischte ein paar Krümel von seinem strapazierten Pullover und dachte: Dem kann heute abend nichts passieren, die Engel werden schon auf ihn aufpassen.
    »Was kosten die Blumen?« fragte der junge Mann.
    »Ich mache Ihnen einen schönen Strauß für einen Dollar. Die Teerosen dort kommen aus dem Gewächshaus, die sind etwas teurer, siebzig Cent das Stück. Für dreieinhalb Dollar gebe ich Ihnen ein halbes Dutzend.«
    »Teuer«, sagte der Mann.
    »Alles, was gut ist, ist teuer, junger Freund, hat dir das deine Mutter nicht beigebracht?«
    Der junge Mann lächelte. »Vielleicht hat sie mal so etwas erwähnt.«
    »Aber ganz bestimmt. Ich gebe dir ein halbes Dutzend, zwei rote, zwei gelbe, zwei weiße. Mehr kann ich nicht für dich tun.
    Ein bißchen Grünzeug dazwischen - das haben sie alle gern - und fertig. Oder nimm doch den Strauß für ‘nen Dollar. Du wirst sehen, wie sie sich freut.«
    »Sie …?« fragte der junge Mann, ohne sein Lächeln zu verlieren.
    »Mein junger Freund«, lächelte der Blumenhändler zurück, während die Zigarettenasche auf seine Hose fiel, »kein Mensch kauft im Mai Blumen für sich selbst; es ist wie ein Gesetz, du verstehst, was ich meine?«
    Der junge Mann dachte an Norma, ihre glücklichen Augen, ihr sanftes Lächeln. Er nickte. »Ja, ja, so ist das«, sagte er.
    »Keine Frage. Was ist also jetzt mit den Blumen?«
    »Was würden Sie mir raten?«
    »Das kann ich dir sagen. Ha, guter Rat ist immer noch umsonst, ist es nicht so?« Der junge Mann lächelte und sagte:
    »Wahrscheinlich das einzige, was noch umsonst ist.«
    »Da kannst du verdammt einen drauf lassen«, sagte der Blumenmann. »Okay, mein junger Freund. Sind die Blumen für deine Mutter, dann nimm den Strauß. Ein paar Narzissen,

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