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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sollte ich sonst machen? Als die Leiter abgebrochen war, konnte ich doch nicht mehr zu dir rauf.«
    »Ich wußte nicht, was du unten gemacht hast«, sagte sie.
    »Aber das mußt du! Ich war doch direkt unter dir!«
    »Ich habe mich nicht getraut, nach unten zu sehen, weil ich solche Angst hatte. Ich habe die ganze Zeit die Augen zugehalten.«
    Ich starrte sie an wie vom Donner gerührt.
    »Du wußtest es nicht? Du wußtest nicht, was ich da unten machte?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Und als ich dir gesagt habe, du sollst loslassen … da hast du es einfach getan?«
    Sie nickte.
    »Wieso, Kitty?«
    Sie sah mich aus ihren tiefblauen Augen an.
    »Ich wußte, daß du sicher irgend etwas getan hattest, um mir zu helfen. Du bist doch mein großer Bruder. Ich wußte, daß du mir helfen würdest.«
    »Oh, Kitty, du weißt nicht, wie knapp es war.«
    Ich hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Kitty setzte sich auf und nahm sie weg. Sie küßte mich auf die Wange.
    »Nein«, sagte sie. »Aber ich wußte, daß du da unten warst.
    Himmel, bin ich müde. Bis morgen, Larry. Der Fuß muß in Gips, hat Dr. Pederson gesagt.«
    Sie hatte den Gips nicht ganz einen Monat, und alle ihre Klassenkameraden unterschrieben darauf - sogar mich brachte sie dazu, zu unterschreiben. Als er dann abgenommen wurde, war der Zwischenfall in der Scheune damit beendet. Mein Vater ersetzte die Leiter zum dritten Heuboden durch eine neue, starke, aber ich bin nie wieder hinauf auf den Balken geklettert und dann in den Heuhaufen gesprungen, und Kitty auch nicht, soweit ich weiß.
    Es war das Ende, und irgendwie doch nicht das Ende.
    Irgendwie endete die ganze Geschichte erst vor neun Tagen, als Kitty aus dem obersten Stock eines Versicherungsgebäudes sprang. Ich habe den Ausschnitt aus der Los Angeles Times in meiner Brieftasche, und ich werde ihn wohl immer bei mir tragen, wenn auch nicht so, wie man Schnappschüsse von Menschen bei sich trägt, die man nicht vergessen will, oder Theaterkarten einer wirklich guten Vorstellung, oder das Programm der Meisterschaftsspiele im Baseball. Ich trage diesen Zeitungsausschnitt so bei mir, wie man etwas Schweres trägt, weil Tragen eine Arbeit ist.
    Die Überschrift lautet: CALLGIRL SPRINGT IN DEN TOD.
    Wir wuchsen heran. Das ist alles, was ich weiß, außer Tatsachen, die nichts bedeuten. Sie sollte auf die Handelsschule in Omaha, doch in jenem Sommer, als sie die High School abschloß, gewann sie einen Schönheitswettbewerb und heiratete einen der Juroren. Es klingt wie ein schäbiger Witz, nicht?
    Meine Kitty.
    Ich war noch auf der Universität und studierte Rechtswissenschaft, ab sie sich scheiden ließ. Sie schrieb mir einen langen Brief von zehn Seiten oder noch mehr, in dem sie mir erzählte, wie es gewesen war, wie verkehrt alles gelaufen war, und daß -  vielleicht alles viel besser gewesen wäre, wenn sie nur ein Kind hätte haben können. Sie fragte mich, ob ich nicht kommen könnte. Aber ich konnte es mir nicht leisten, eine Woche meine Vorlesungen zu verpassen. Studenten der Rechtswissenschaft sind wie Greyhounds. Wenn man erst einmal Blickkontakt mit dem kleinen mechanischen Hasen verloren hat, ist es aus und Sie zog nach Los Angeles und heiratete wieder. Als ihre zweite Ehe zerbrach, war ich mit meinem Studium schon fertig.
    Sie schrieb mir wieder, diesmal einen kürzeren, verbitterteren Brief. Sie würde sich nie wieder auf dieses Karussell setzen, meinte sie. Die einzige Möglichkeit, den Messingring zu bekommen, sei, daß man dabei vom Pferd fiel und sich den Schädel einschlug. Wenn das der Preis für eine Freifahrt sei, wer würde sie dann schon wollen? PS. Könntest du nicht kommen, Larry? Es ist schon so lange her.
    Ich schrieb ihr zurück, daß ich schrecklich gern kommen würde, aber ich könnte nicht. Ich hatte einen Job in einer sehr dynamischen Firma bekommen, ganz unten auf der Hierarchie-leiter, wo ich für andere die Arbeit machte. Wenn ich die nächst höhere Stufe schaffen wollte, dann müßte es noch in diesem Jahr sein, schrieb ich ihr. Das war mein langer Brief, und er handelte einzig von meiner Karriere.
    Ich beantwortete alle ihre Briefe, aber ich konnte nie so recht glauben, daß es wirklich Kitty war, die sie schrieb, wissen Sie, ähnlich wie ich nie richtig glauben konnte, daß das Heu wirklich da war … bis es mich am Ende meines Falls auffing und mir das Leben rettete. Ich konnte einfach nicht fassen, daß meine Schwester und die vom Leben enttäuschte Frau, die

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