Nachtschicht
sich jeden Mittag und gingen zusammen ins Stratford Diner, wo sie ihre Lunchbrote aßen.
Mom gab ihnen immer einen Nickel für Milch mit - damals wurde die Milch in der Schule noch nicht kostenlos ausgegeben. Und manchmal kam dann Mr. Nell herein, der Ledergürtel knirschte unter dem Gewicht seines Bauchs und seines 38ers, und kaufte ihnen beiden ein Stück Apfelkuchen.
Wo waren Sie, als sie meinen Bruder erstochen haben, Mr. Nell?
Die Verbindung wurde hergestellt, und es läutete einmal.
»Polizei Stratford.«
»Guten Abend. Mein Name ist James Norman. Ich rufe von auswärts an.« Jim nannte die Stadt. »Ich hätte gern gewußt, ob Sie mir eine Auskunft über jemanden geben können, der so um 1957 bei der Polizei in Stratford gewesen sein muß.«
»Einen Augenblick, Mr. Norman.«
Nach einer kurzen Pause meldete sich eine andere Stimme.
»Sergeant Morton Livingstone, Mr. Norman. Um wen geht es?«
»Tja, also wir Kinder nannten ihn einfach Mr. Nell. Können Sie damit …?«
»Sicher, natürlich! Don Nell ist inzwischen pensioniert. Er ist jetzt drei- oder vierundsiebzig.«
»Lebt er immer noch in Stratford?«
»Ja, in der Bamue Avenue. Möchten Sie die genaue Adresse?«
»Und die Telefonnummer, wenn Sie sie haben.«
»Sicher. Haben Sie Don gekannt?«
»Er hat meinem Bruder und mir immer Apfelkuchen im Stratford Diner gekauft.«
»Mein Gott, das existiert schon seit zehn Jahren nicht mehr. Einen Moment bitte.«
Nach einem Augenblick war er wieder da und gab Jim eine Adresse und eine Telefonnummer durch. Jim notierte sie sich, bedankte sich bei Livingstone und hängte ein.
Er wählte noch einmal die Vermittlung an, nannte die Nummer und wartete. Als das Telefon zu läuten begann, wurde Jim von einer starken Spannung ergriffen. Er beugte sich vor und drehte der Trinkhalle des Drugstores instinktiv den Rücken zu, obwohl niemand da war außer einem untersetzten jungen Mädchen, das in einer Zeitschrift las.
Am anderen Ende der Leitung wurde abgenommen, und es meldete sich eine volle, maskuline Stimme, die keineswegs alt klang. »Ja?« Dieses eine Wort löste eine staubige Kettenreaktion von Erinnerungen und Emotionen aus, genauso überraschend wie die Pawlowsche Reaktion, die ausgelöst werden kann, wenn man eine alte Platte im Radio hört.
»Mr. Nell? Donald Nell?«
»Am Apparat.«
»Mein Name ist James Norman, Mr. Nell. Erinnern Sie sich zufällig noch an mich?«
»Sicher«, antwortete die Stimme sofort. »Und an den Apfelkuchen. Ihr Bruder wurde ermordet … erstochen. Schrecklich.
Er war so ein netter Junge.«
Jim mußte sich gegen die Wand der Telefonzelle lehnen.
Jetzt, nachdem sich die Spannung so plötzlich gelöst hatte, wurden seine Knie auf einmal weich. Er merkte, daß er nahe daran war, sich alles von der Seele zu reden, und kämpfte verzweifelt dagegen an.
»Diese Jugendlichen sind doch nie geschnappt worden, Mr. Nell, nicht?«
»Nein. Es gab nur einige Verdächtige. Ich erinnere mich, daß wir Sie zu einer Gegenüberstellung in einem Polizeirevier von Bridgeport geholt haben.«
»Haben Sie mir damals die Namen der Verdächtigen genannt?«
»Nein. Sie sollten uns bei der Gegenüberstellung nur die Nummern der von Ihnen identifizierten Jungen nennen. Wieso interessieren Sie sich auf einmal wieder für diese Sache, Mr. Norman?«
»Lassen Sie mich in Verbindung mit diesem Fall ein paar Namen aufzahlen«, erwiderte Jim. »Ich möchte wissen, ob sie Ihnen irgend etwas sagen.«
»Mein Sohn, ich kann mich unmöglich -«
»Vielleicht doch.« Jim fühlte eine Spur von Verzweiflung in sich aufsteigen. »Robert Lawson, David Garcia, Vincent Corey.
Sagt Ihnen einer der Namen -«
»Corey«, unterbrach ihn Mr. Nell ausdruckslos. »Ich erinnere mich an ihn. Vinnie die Viper. Ja, er gehörte auch zu den Verdächtigen. Seine Mutter hatte ein Alibi für ihn. Robert Lawson sagt mir nichts. Ein ganz normaler Name. Aber Garcia … irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Aber ich weiß nicht genau, woher. Himmel, ich werde wirklich alt.« Er klang, als ärgerte er sich über sich selbst.
»Wäre es vielleicht möglich, Mr. Nell, daß Sie diese Jungen überprüfen?«
»Sie werden heute kaum mehr Jungen sein.«
Ach, tatsächlich?
»Hören Sie zu, Jimmy. Ist vielleicht einer von diesen Burschen aufgetaucht und macht Ihnen jetzt Ärger?«
»Ich weiß nicht so recht. Es sind ein paar merkwürdige Dinge passiert. Dinge, die mit der Ermordung meines Bruders zu tun haben.«
»Was für
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