Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
erinnerte Hart sich. »Was ist damit?«
»Ich war nicht ganz ehrlich.«
»Ach ja?«
»Das nagt an mir, Hart.«
Lewis redete ihn schon seit Stunden nicht mehr sarkastisch als »Kumpel« an. »Sag schon, Comp, was ist los?«
»Die Wahrheit ist … wir haben keine fünfzigtausend erbeutet. Oder was immer ich gesagt habe. Es waren eher … okay, es waren eher dreitausend. Oder zweitausend und ein paar Zerquetschte. Und es war auch keine Bank. Es war ein Wachmann, der draußen den Geldautomaten nachgefüllt hat … und ich hab
nur geschossen, um ihm Angst einzujagen. Er hat seine Waffe fallen gelassen. Und sich in die Hose gepinkelt, glaube ich. Er hatte auch keine Reservekanone … Manchmal schmücke ich die Dinge ein wenig aus und übertreibe, du weißt schon. Das habe ich mir wegen meines Bruders angewöhnt. Es ging irgendwie nicht anders … als der Kleinere musste ich mir einfach Respekt verschaffen. So. Da hast du’s.«
»Das war’s? Das war dein Geständnis?«
»Ja.«
»Verdammt, Comp, wenn jemand kein gesundes Ego hat, würde ich gar nicht erst mit ihm zusammenarbeiten wollen. Man kann die Sache auch anders betrachten. Du hast zweitausend Dollar erbeutet für, was, zwei Minuten Arbeit?«
»So ungefähr.«
»Das sind sechzigtausend pro Stunde. Und er hat sich in die Hose gepinkelt? Zum Teufel, das allein war die Sache schon wert.« Hart lachte.
»Bist du denn immer noch daran interessiert, dass wir beide diesen Überfall machen?«, fragte Lewis kleinlaut.
»Na klar. Je eher wir hier fertig sind, desto eher können wir ein paar Dinger planen, die nicht in die Hose gehen, sondern hundertzehnprozentig klappen.«
Lewis verkniff sich ein Grinsen und klopfte wieder mal auf seine Zigaretten, so wie ein guter Katholik sich bekreuzigen würde.
62
Es war viel schwieriger als erwartet.
Der Hügel war dermaßen steil, dass manche Stellen einfach
nicht erklommen werden konnten, jedenfalls nicht von einem zehnjährigen Mädchen. Brynn musste häufig Alternativrouten finden.
»Wie wäre es dort?«
Brynn schaute zu der Stelle, auf die Michelle zeigte. Es schien sich um einen halbwegs ebenen Pfad zwischen einem Felsvorsprung und einem dichten Gehölz zu handeln. Brynn dachte darüber nach, doch auf diesem Weg würden sie von unten deutlich zu erkennen sein und keinerlei Fluchtmöglichkeiten haben. Sie mussten die Stelle umgehen und kostbare Minuten auf die Suche nach einer entsprechenden Strecke verwenden. Brynn war nicht ganz überzeugt davon, dass Hart die Masche mit Point of Rocks geglaubt hatte. Es beschlich sie das immer stärker werdende Gefühl, dass die Männer sich ihnen näherten.
Die Frauen stiegen weiter hinauf und umgingen eine etwa sechs Meter hohe Kalksteinformation. Brynn konnte sehen, dass hier Felskletterer gewesen waren. Aus den Rissen ragten Metallbolzen. Im Augenblick kam ihr dieses Hobby wie der reine Wahnsinn vor. Wie etwas, das Joey ausprobieren würde. Aber sie schob den Gedanken an ihren Sohn sofort wieder beiseite. Konzentriere dich, ermahnte sie sich.
Ein kurzes Stück ging es fast waagerecht voran, und sie konnten alle ein wenig Atem schöpfen. Dann mussten sie sich keuchend wieder nach oben kämpfen.
Das Geräusch des Snake River, der durch die rechts gelegene Schlucht rauschte, wurde immer leiser, je höher sie kamen. Brynn schätzte, dass sie sich derzeit knapp zwanzig Meter über dem Fluss befanden.
»O nein«, flüsterte Michelle. Auch Brynn blieb stehen. Der Weg endete jäh vor einer Felswand. Es war eine Sackgasse. Rechts ging es steil in die Schlucht hinunter. Brynn wollte sich langsam zur Kante vorwagen, doch schon der Gedanke an die Höhe verursachte ihr Schwindel, und sie machte wieder kehrt. »Da geht es nicht weiter.«
Frustriert seufzte sie auf. Bis zur Interstate war es nicht mal mehr ein Kilometer, aber die Kletterei dauerte ewig. Jetzt umzukehren und einen anderen Weg zu suchen, würde weitere zehn Minuten erfordern.
Brynn blickte zurück und musterte dann die Wand. Sie war etwa sechs Meter hoch und nicht ganz senkrecht. Die Steigung lag größtenteils bei etwa siebzig Prozent, und die Oberfläche war rissig und schroff. »Schaffen Sie das?«, fragte sie Michelle.
»Verlassen Sie sich drauf.«
Brynn lächelte. »Weißt du noch, als du klein warst, Amy?«, wandte sie sich an das Mädchen. »Du und ich, wir klettern zusammen. Ich trage dich huckepack.«
»Rudy will mich auch manchmal huckepack tragen. Das mag ich nicht. Er stinkt.«
Brynn schaute zu
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