Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
ich kann es Ihnen nicht verbieten?«
»Sie können mich feuern.«
Er lachte in sich hinein.
Brynn seufzte. »Der Mist ist uns einfach so in den Schoß gefallen.«
»Das kann man sich meistens nicht aussuchen. Und es passiert fast immer ohne Vorwarnung.«
»Was machen Sie und Carol dieses Wochenende?«
»Vielleicht gehen wir ins Kino. Aber nur, wenn ihre Mutter auf die Kinder aufpasst. Wenn wir uns eine Babysitterin mieten, müssen wir ihr nicht nur zehn Dollar pro Stunde zahlen, sondern auch noch ein warmes Essen hinstellen. Wie viel zahlen Sie?«
»Graham und ich gehen nur selten weg.«
»Das ist auch besser so. Bleiben Sie zu Hause, essen Sie schön zu Abend. Man muss gar nicht ausgehen. Vor allem nicht, wenn man Kabelanschluss hat. So, jetzt muss ich aber los.«
»Grüßen Sie Carol von mir.«
»Mach ich gern. Und alles Gute für Ihre Mutter. Richten Sie ihr in meinem Namen gute Besserung aus.«
Sie schaute ihm hinterher. Dann stand sie auf und nahm den ersten Punkt auf ihrer Liste in Angriff.
II
MAI
85
Stanley Mankewitz saß in einem Imbiss in der Innenstadt von Milwaukee und betrachtete im Fenster das Spiegelbild seiner großen, breiten Statur, das sich vor dem dunkelgrauen Licht des Nachmittags nur umso deutlicher abhob. Man schrieb den 1. Mai, aber das Wetter hätte eher zum März gepasst.
Das Datum besaß für Mankewitz große Bedeutung. Es war der internationale Tag der Arbeit, der 1889 von Arbeiterbewegungen in aller Welt als Ehrentag des einfachen Werktätigen auserkoren worden war. Man hatte sich vor allem deshalb für dieses spezielle Datum entschieden, weil man an die Märtyrer des Chicagoer Haymarket-Massakers vom Mai 1886 erinnern wollte. Bei den Unruhen im Anschluss an Gewerkschaftskundgebungen zur Einführung des Achtstundentags waren damals sowohl Polizisten als auch Arbeiter ums Leben gekommen.
Für Mankewitz bedeutete der 1. Mai zweierlei. Erstens ehrte man an diesem Tag hier und überall auf der Welt die arbeitende Bevölkerung - zu der Mankewitz sich seit jeher selbst zählte und deren Interessen er mittlerweile von ganzem Herzen vertrat. Zweitens war der Feiertag ein Beweis dafür, dass man zum Wohle des größeren Ganzen bisweilen Opfer bringen musste.
Über Mankewitz’ Schreibtisch hing ein Zitat: die letzten Worte von August Spies, einem der Männer, die man für ihre Beteiligung am Haymarket-Massaker zum Tod durch den Strang verurteilt hatte (und der nach Ansicht heutiger Gelehrter vermutlich unschuldig gewesen war, genau wie die anderen Angeklagten). Spies hatte gesagt: »Es kommt der Tag, an dem unser Schweigen machtvoller sein wird als die Stimmen, die ihr heute verstummen lasst.«
Opfer …
Während Mankewitz über das folgenschwere Datum nachdachte, musterte er sein Abbild und nahm an sich nicht etwa den rundlichen Körperbau, der ihn gelegentlich nervte, sondern eine deutliche Erschöpfung wahr. Er schloss das aus seiner Haltung, denn seine Gesichtszüge blieben undeutlich, obwohl sie gewiss zum Gesamtbild gepasst hätten.
Er biss ein Stück von seinem Club-Sandwich ab und bemerkte den amerikanischen anstatt des bestellten Schweizer Käses. Außerdem war zu viel Mayonnaise auf dem Salat. Das machen die immer, ärgerte er sich. Warum esse ich hier überhaupt noch?
Der Hobbit-Detective hatte sich in letzter Zeit rar gemacht. Wahrscheinlich aus lauter Angst.
Denn nach Emma Feldmans Tod hatte Mankewitz’ Leben sich in einen Albtraum verwandelt. Das FBI und die Staatsanwaltschaft hatten ihn zu einem Gespräch »gebeten«. Mankewitz ging mit seinem Anwalt hin, beantwortete manche Fragen und andere nicht und wurde in eisigem Tonfall wieder verabschiedet. Weder er noch sein Anwalt hatten erkennen können, worauf die Sache hinauslaufen sollte.
Dann erfuhr er, dass die Kanzlei, für die Emma Feldman gearbeitet hatte, in Erwägung zog, ihn wegen des Todesfalls zu verklagen - und wegen entgangener Einnahmen. Sein Anwalt sagte, das alles sei bloß heiße Luft, denn es gebe überhaupt keine legale Handhabe für eine solche Klage.
Alles bloß reine Schikane …
»Es gibt vor allem deswegen keine Handhabe, weil ich die Frau nicht getötet habe«, hatte Mankewitz gewettert.
»Ja, natürlich, Stan. Das versteht sich wohl von selbst.«
Von selbst.
Er blickte von seinem Sandwich auf und sah James Jasons eintreten. Der schmale Mann setzte sich. Als die Kellnerin kam, bestellte er eine Cola light.
»Essen Sie gar nichts?«, fragte Mankewitz.
»Kommt darauf an.«
Und das
Weitere Kostenlose Bücher