Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
Jungen - und über ihre Erziehungsmethoden - der Wahrheit entsprechen mochten, hatte sie Nachforschungen angestellt und mit einigen Leuten geredet. Dabei hatte sie erfahren, dass die Berichte über das Asphaltsurfen stimmten; Joey hatte sich schon häufiger an Lastwagen angehängt und war nur durch großes Glück nicht ernstlich verletzt worden. Auch hatte er tatsächlich den Unterricht geschwänzt.
Daraufhin hatte Brynn mehrere schwierige Gespräche mit dem Jungen geführt, unterstützt und instruiert von ihrer Mutter, die vernünftig war, aber in der Sache hart blieb. (Dieses eine Mal war Brynn froh darüber, dass die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wieder der von früher ähnelte.)
Aus Sicht ihres Sohnes war Brynn wie ein Blitz aus heiterem Himmel in sein Leben eingeschlagen. Er durfte sein Skateboard nur noch in ihrem Beisein auf einer öffentlichen Freestyle-Bahn benutzen. Und er musste seinen Helm tragen, keine Strickmützen.
»Mom, na komm schon. Soll das ein Witz sein?«
»Du hast keine andere Wahl. Und dein Skateboard bleibt in meinem Zimmer eingeschlossen.«
Er hatte theatralisch geseufzt. Aber gehorcht.
Sie verlangte von ihm außerdem, sich in bestimmten Abständen telefonisch zu melden und zwanzig Minuten nach Schulschluss zu Hause zu sein. Belustigt registrierte sie seine Reaktion auf den Hinweis, dass die Polizei mit Hilfe der Telefongesellschaft in der Lage sei, den Standort eines Mobiltelefons zu ermitteln, auch wenn es gerade nicht benutzt wurde. (Das stimmte, wenngleich Brynn verschwieg, dass es illegal gewesen wäre, Joey auf diese Weise elektronisch zu überwachen.)
Sein rebellisches Verhalten bekam sie also unter Kontrolle, doch seine Stimmungsschwankungen seit Grahams Auszug standen auf einem anderen Blatt. Obwohl ihr Mann regelmäßigen Kontakt zu seinem Stiefsohn hielt, war Joey alles andere als glücklich über die Trennung, und Brynn wusste nicht, wie sie etwas daran hätte ändern können. Immerhin war nicht sie diejenige, die das gemeinsame Haus verlassen hatte. Sie wollte es gern in Ordnung bringen, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie das gehen sollte.
Brynn schob die Suppe von sich weg und dachte daran, wie viel sich seit jener Nacht geändert hatte.
Jene Nacht . Diese beiden Worte waren prägend für ihr Leben geworden und bedeuteten sehr viel mehr als eine reine Zeitangabe.
Sie war wieder Single, musste ihre kranke Mutter pflegen und einen problematischen Sohn im Auge behalten. Dennoch würde nichts auf der Welt sie davon abbringen, Michelle und Hart aufzuspüren und dingfest zu machen.
Sie fragte sich gerade, ob die heutigen Treffen mit dem Detective und dem FBI-Agenten nicht doch eine verwertbare Information erbracht hatten, als ihr auffiel, wie still es hier am Tresen geworden war.
Es war niemand mehr da. Der Kellner, sein Lehrling und der Barmann hatten sich in Luft aufgelöst.
Und dann fiel ihr etwas ein: dass auf dem Weg vom Polizeirevier hierher ein schmächtiger Mann hinter ihr gegangen war. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, aber nun erinnerte sie sich, dass sie vor einem Schaufenster stehen geblieben war und er ebenfalls innegehalten hatte, um zu telefonieren. Oder so zu tun.
Beunruhigt wollte sie aufstehen, spürte in diesem Moment aber einen Luftzug, weil die Eingangstür sich öffnete und jemand das Lokal betrat.
Brynn erstarrte. Ihre Pistole befand sich unter ihrem Jackett
und dem Regenmantel. Sie würde tot sein, bevor sie auch nur zwei Knöpfe geöffnet hatte.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich umzudrehen.
Halb rechnete sie damit, Hart zu erblicken, der sie aus seinen grauen Augen ruhig ansah, während er die Waffe hob, um sie zu erschießen.
Doch es waren zwei Fremde. Der dickere der beiden, ein Mann Mitte sechzig, sagte: »Detective, ich bin Stanley Mankewitz.«
Sie nickte. »Es heißt Deputy .«
Der andere Kerl, mager und jungenhaft, war der Verfolger von vorhin. Er lächelte matt, aber humorvoll sah das nicht aus. Er blieb stumm.
Mankewitz nahm auf dem Hocker neben Brynn Platz. »Darf ich?«
»Das grenzt ja fast an Kidnapping.«
Er wirkte überrascht. »Oh, es steht Ihnen jederzeit frei zu gehen, Deputy McKenzie. Kidnapping?«
Er nickte seinem Mitarbeiter zu. Der Mann setzte sich an einen nahen Tisch.
Der Barmann kam zurück und sah Mankewitz fragend an.
»Einen Kaffee, bitte. Und für meinen Freund eine Cola light.« Er wies auf den Tisch.
Der Mann schenkte die Getränke ein und brachte sie Mankewitz und dessen
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