Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
sobald Joey ein wenig älter sei. Was auch immer es war, er rastete einfach aus.«
»Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Und deswegen liegen Fälle von häuslicher Gewalt ihr besonders am Herzen.«
»Sie hat oft damit zu tun«, pflichtete Graham ihr bei. »Ich dachte immer, es läge an Tom Dahl. Du weißt schon, weil er eine Frau dabeihaben wollte.«
»Nein. Sie meldet sich freiwillig.«
»Was hat sie gemacht, nachdem Keith sie geschlagen hatte?«
»Sie hat ihn nicht angezeigt, falls du das meinst. Ich glaube, sie hat sich Sorgen um Joey gemacht.«
»Hat er es noch mal getan?«
»Nein. Zumindest soweit ich weiß.«
Jemanden zu verprügeln, mit dem man verheiratet war - er
konnte es nicht begreifen. Herrje, überhaupt jemanden zu schlagen, außer in Notwehr, war für ihn fast unvorstellbar.
Graham dachte an ihre gemeinsame Vergangenheit zurück, an die Worte seiner Frau, ihr Verhalten. Dutzende Male fasste sie sich morgens an den Kiefer. Sie schreckte schwitzend und stöhnend aus Albträumen hoch. Sie war manchmal trübsinnig, ließ ihn nicht an sich heran.
Sie wollte alles unter Kontrolle behalten …
Er stellte sich ihre Hand vor, wie sie über die unebene Linie ihres Kiefers strich, während sie beim Abendessen oder auf der grünen Couch vor dem Fernseher saßen.
Graham lehnte sich zurück. »Aber sie wusste doch anfangs gar nicht, was sie am Lake Mondac erwarten würde. Die häusliche Gewalt mag der Grund sein, weshalb sie immer noch da ist. Doch ich verstehe nicht, wieso sie sich überhaupt hat breitschlagen lassen, dorthin zu fahren.«
»Ich glaube, die Antwort ist in beiden Fällen dieselbe, Graham.« Das Klicken der Nadeln setzte wieder ein, als Anna sich mit neuerlicher Energie ans Werk machte.
29
Sie blieben stehen, um den Kompass zu konsultieren, wie sie es ungefähr alle vierhundert Meter taten.
Brynn und Michelle knieten sich hin, legten die Flasche auf die Seite und bugsierten ihr magnetisches Floß in die Mitte des winzigen Ozeans, wo es sich für sie nach Norden ausrichten würde. Der Kompass erwies sich als ihre Rettung. Brynn war erstaunt, wie oft sie vom Kurs abkamen, obwohl sie absolut sicher gewesen war, die Richtung gehalten zu haben.
»Woher haben Sie gewusst, wie man so ein Ding bastelt?«, fragte Michelle, als Brynn den Kompass wieder einsteckte. »War das ein Schulprojekt für Ihre Kinder?«
»Nein, mein Sohn hatte nichts damit zu tun. Ich habe bei der Staatspolizei an einem Seminar teilgenommen.« Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Skateboard-Fanatiker Joey lange genug still sitzen blieb, um an einem naturwissenschaftlichen Projekt zu arbeiten. Der Gedanke war amüsant.
»Wie alt ist er?«, fragte Michelle interessiert.
»Zwölf.«
»Ich liebe Kinder«, sagte sie und lächelte. »Wie heißt er?«
»Joseph.«
»Ein biblischer Name.«
»Kann sein. Wir haben ihn nach dem Onkel seines Vaters genannt.«
»Ist er ein guter Junge?«
»Ja, ist er.« Sie zögerte. »Obwohl er manchmal in Schwierigkeiten gerät.« Sie erzählte Michelle von dem kleinen Skateboard-Unfall und erwähnte einige Schrammen, die er sich schon früher in der Schule zugezogen hatte. Die Frau hörte ihr aufmerksam und mitfühlend zu. »Haben Sie und Ihr Mann Kinder?«, fragte Brynn.
Michelle warf ihr einen kurzen Blick zu. »Noch nicht. Wir sind beide beruflich ziemlich eingespannt.«
»Und Sie sind Schauspielerin, sagten Sie?«
Ein verstohlenes Lächeln. »Im Augenblick mache ich nur kleine Sachen. Fernsehwerbung, Provinztheater. Aber ich werde bald bei Second City einsteigen, der Comedy-Truppe. Die haben schon ein paarmal angerufen. Und ich habe ein Vorsprechen für die Wandervorstellung von Wicked .«
Brynn hörte höflich zu, als die junge Frau ihr von einigen Engagements erzählte, die sie anstrebte. Nach Brynns Ansicht war sie jedoch eine reine Amateurin. Es klang, als würde sie von Medium zu Medium springen, um hoffentlich eines zu finden,
für das sie Talent besaß. Oder das geringere Anforderungen stellte als andere. Brynn war nicht überrascht, als Michelle hinzufügte, sie habe sich außerdem als Stückeschreiberin versucht, sei in letzter Zeit aber zu der Ansicht gelangt, Independentfilme seien die bessere Wahl. Darüber hinaus habe sie vor, sich eventuell eine Anstellung in Los Angeles zu suchen, um Leute aus der Filmindustrie kennenzulernen.
Das Gelände stieg an. Sie verstummten und schleppten sich keuchend einen halben Kilometer bergauf.
Brynn war der Ansicht, sie hätten
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