Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
zugewachsen, da kaum jemand ihn während
des Winters benutzt hatte, aber verglichen mit ihrer bisherigen Mühsal seit der Flucht vom Haus der Feldmans war er der reine Himmel.
»Ist er das?«, fragte Michelle.
Sie fanden die Antwort nur zehn Meter weiter auf einem großen Holzschild:
PERKINSTOWN 103 KM
DULUTH, MN 301 KM
Am Joliet Trail bitte mit Umsicht campen.
Nur SIE können Waldbränden vorbeugen!
30
»Was meinst du, wie viel Zeit haben wir dadurch gewonnen?«, fragte Lewis.
Er bezog sich auf Harts Telefonat mit Graham Boyd, Brynns Mann.
»Schwer zu sagen.«
Sie hatten sich schon mehrere Kilometer durch das Dickicht nach Norden vorgearbeitet und dabei ihren Kurs gelegentlich anhand der GPS-Anzeige, den Bildern von Google Earth und der gedruckten Landkarte korrigiert.
»Hattest du ihr Telefon deshalb eingeschaltet?«
»Genau.« Unmittelbar nach dem Gespräch hatte er jedoch den Akku herausgenommen, damit die Polizei das Gerät nicht anpeilen konnte. »Ich hatte es schon eine ganze Weile vor, wollte damit aber so lange wie möglich warten. Jetzt ist er beruhigt. Er wird sich schlafen legen und erst um drei oder vier
Uhr morgens Verdacht schöpfen, wenn er in einem leeren Bett aufwacht. Bis dahin sind die beiden längst tot und begraben.«
»Hat er dir auch wirklich geglaubt?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher.«
Während sie weitergingen, fragte Hart sich, was für eine Art Mann Boyd sein mochte, der mit einer Frau wie Brynn verheiratet war. Tiefe Stimme, offenbar intelligent, höflich, nicht betrunken. Hatten die Äußerungen des Mannes womöglich Hinweise enthalten, mit deren Hilfe sie die Frau einfacher finden und töten konnten?
Nicht wirklich.
Dennoch ging er die Unterredung in Gedanken immer wieder durch. Sie faszinierte ihn.
Zwei unterschiedliche Nachnamen. Es überraschte ihn nicht, dass Brynn ihren Mädchennamen behalten hatte.
Graham … Der Mann, mit dem sie schlief, mit dem sie ihr Leben teilte. Ungewöhnlicher Name. Woher stammte er wohl? War er konservativ, liberal? Religiös? Womit verdiente er seinen Lebensunterhalt? Hart interessierte sich für die Erleichterung, die in der Stimme des anderen gelegen hatte. Irgendwas daran kam ihm ein wenig merkwürdig vor. Hart wusste nicht, was er davon halten sollte. Ja, Erleichterung … aber gleichzeitig noch eine andere Regung.
Er wünschte, er hätte die Frau in der Auffahrt der Feldmans besser zu Gesicht bekommen. Sie war recht hübsch, das wusste er noch. Bräunliches Haar, straff nach hinten gekämmt, wahrscheinlich von einer Spange oder einem Haargummi gehalten. Gute Figur. Hatte sich nicht gehen lassen. Er stellte sich ihre Augen vor. Wie ihre Stirn sich in Falten legte, als sie ihn aus dem Gebüsch treten sah.
Hart hatte bisher sechs Leute getötet. Drei hatten ihn dabei angesehen. Der Blick in ihre Augen machte ihm nichts aus. Es war ihm nicht lieber, sie würden wegsehen. Er selbst sah auch
nicht weg. Das einzige Opfer, das nicht gejammert hatte, war die eine Frau, die er umgelegt hatte, eine Drogendealerin.
Mann, hast du das echt vor?
Er hatte nichts erwidert.
Können wir beide uns nicht einigen?
Sie hatte Geld gestohlen oder auch nicht, Drogen abgezweigt oder auch nicht. Das war nicht Harts Problem. Er hatte eine Vereinbarung mit dem Mann getroffen, der den Tod der Frau wollte. Also tötete er sie, ganz professionell, und ließ sie unterdessen nicht aus den Augen, damit sie sich nicht wegducken oder eine versteckte Waffe ziehen konnte.
Brynn hatte ihm ebenfalls in die Augen geschaut, als sie abdrückte.
Eine echte Könnerin.
»Hart?«
Lewis’ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Angespannt wandte er den Kopf. »Ja?«
»Du arbeitest in Milwaukee, ich auch. Wie kommt es, dass wir uns noch nie zuvor begegnet sind?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du oft in der Stadt zu tun?«
»Nein, nicht besonders. So ist es sicherer.«
»Wo wohnst du?«
»Südlich der Stadt.«
»In Richtung Kenosha?«
»Nicht so weit.«
»Da wird ziemlich viel gebaut, oder?«
Lewis blieb plötzlich stehen. »Sieh mal, ein Pfahl oder so. Mit einem Schild.«
»Wo?«
»Da, rechts.«
Sie gingen vorsichtig weiter. Hart schob seine Gedanken an Brynn widerstrebend beiseite und hielt bei dem Schild an.
Im Sommer des Jahres 1673 durchquerten Louis Joliet, ein 2 7 -jähriger Philosoph, und Fr. Jacques Marquette, ein 3 5 -jähriger Jesuitenpater, auf ihrem Weg zum Mississippi das Gebiet des heutigen Wisconsin. Obwohl der Pfad, auf dem Sie gerade
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