Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
inzwischen auf den Joliet Trail stoßen müssen. Es konnte nicht mehr weit sein. Doch bei all dem dichten Unterholz war es ihr nicht möglich, realistisch einzuschätzen, wie schnell sie vorankamen. Es war, als würden sie durch Wasser waten; die große Anstrengung bedeutete nicht zwangsläufig, dass auch eine lange Strecke zurückgelegt wurde.
Nach fünfzehn Minuten machten sie auf einer von Wildrosen gesäumten Lichtung halt, um erneut den Kompass zurate zu ziehen. Der Anzünder flammte auf, und Brynn sah, dass sie auf Kurs waren. »Okay, machen Sie das Licht aus.«
Sie hatten sich angewöhnt, jeweils kurz auszuharren und fest die Augen zu schließen, um sich möglichst schnell wieder an die Dunkelheit anzupassen.
Hinter ihnen knackte etwas.
Laut.
Michelle keuchte auf.
Angespannt gingen beide Frauen vom Knien in die Hocke über. Brynn steckte den Kompass ein und nahm den Speer.
Noch ein Knacken, gefolgt von raschelnden Schritten.
Brynn kniff die Augen zusammen, bis ihre Wange schmerzte. Doch sie konnte nichts erkennen.
Waren das die Killer?
»Was ist das? Glauben Sie …?«
»Psst.«
Irgendwas umkreiste sie. Blieb stehen. Ging weiter.
Knack …
Dann verschwand es.
Gleich darauf knackte und raschelte es rechts von ihnen schon wieder. Sie wirbelten herum. Brynn konnte einen schemenhaften Umriss ausmachen, der sich vor und zurück wiegte.
Das waren nicht die Männer. Es war nicht einmal menschlich. Brynn erkannte, dass es ein Tier war, etwa so groß wie ein Schäferhund.
Es schien sie mit sprungbereiten Schultern und aufgestelltem Nackenfell anzustarren.
Michelle packte ängstlich Brynns Arm.
War das ein Puma? Man hatte hier in Wisconsin das letzte Exemplar angeblich schon vor hundert Jahren erlegt. Doch es wurde immer wieder gemeldet, dass jemand einen Puma gesehen haben wollte. Gelegentlich tauchten auch Kojoten auf. Wenn diese eigentlich scheuen Tiere von der Tollwut befallen wurden und durchdrehten, liefen sie bisweilen mitten in die Zelte hinein und griffen Camper an. Auch Luchse waren hier heimisch.
Doch dieses Tier schien dafür zu groß zu sein. Brynn kam zu dem Schluss, es müsse sich um einen der Grauwölfe handeln, die im ganzen Staat seit einiger Zeit wieder angesiedelt wurden. Sie wusste nicht, ob diese Wölfe Menschen angriffen, aber das schaurige Gesicht mit dem prüfenden - fast menschlichen - Blick war beunruhigend.
Hatten Michelle und Brynn sich versehentlich dem Bau des Wolfs genähert? Gab es Welpen, die beschützt werden mussten? Ein zu allem entschlossenes Muttertier sei der schlimmste aller denkbaren Feinde, hatte Keith, der begeisterte Jäger, ihr mal erzählt.
In ihr brandete jähe Wut auf. Sie konnten heute Nacht keinen weiteren Feind gebrauchen. Brynn packte den Speer mit festem Griff und richtete sich auf. Dann trat sie vor und stellte sich zwischen Michelle und die Kreatur.
»Was machen Sie da? Lassen Sie mich nicht allein.«
Nicht zögern, dachte Brynn. Geh weiter.
Das Tier neigte den Kopf, und in seinen Augen brach sich ein Splitter des Mondlichts.
Brynn beschleunigte ihren Schritt und drang geduckt weiter vor.
Das Tier ließ sie nicht aus den Augen, wich zurück und floh schließlich in die Finsternis. Brynn blieb stehen und kehrte zu der jungen Frau zurück, die sie mit großen Augen anstarrte. »Mein Gott«, sagte Michelle.
»Es ist nichts passiert.«
Aber Michelle hatte nicht das Tier gemeint. »Geht es Ihnen gut?«, fragte sie verunsichert.
»Mir?«, fragte Brynn. »Sicher. Wieso?«
»Sie haben … Sie haben so ein Geräusch von sich gegeben. Ich dachte, Sie würden keine Luft bekommen oder so.«
»Ein Geräusch?«
»Es klang wie ein Knurren. Richtig unheimlich.«
»Ein Knurren?« Brynn war sich der Tatsache bewusst, dass sie zwischen zusammengebissenen Zähnen schwer atmete. Von irgendeinem anderen Geräusch hatte sie gar nichts bemerkt.
Die Königin des Dschungels …
Brynn lachte verlegen auf, und sie gingen weiter. Ihr Weg führte sie in eine enge Schlucht; die Felsen und Bäume zu beiden Seiten waren von Kletterpflanzen überwuchert und der Boden mit giftigem Efeu und Immergrün bedeckt. Außerdem gab es sumpfige Tümpel, umgeben von Pilzen und Schwämmen. Die beiden Frauen bahnten sich einen Pfad hindurch und mühten sich erschöpft die andere Seite hinauf, wobei sie an Schösslingen und Sandsteinvorsprüngen Halt fanden.
Oben stolperten sie auf einen Pfad.
Er war nicht breit - nur zwischen einem und anderthalb Metern - und halb
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