Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
Rückseite rühmte nicht nur die große Bedeutung von grüner Energie, sondern belegte auch, dass der Besitzer den Snoqualmie Pass mit dem Mountainbike bezwungen hatte und auf dem Appalachian Trail gewandert war.
»Hast du sonst noch was gehört, Liebling?«, fragte Susan, eine rundliche Frau mit glattem hellbraunem Haar, die ein paar Jahre älter als Gandy war. Um den Hals trug sie einen Anhänger in Form des ägyptischen Ankh und an der Hand zwei geflochtene Freundschaftsbänder sowie einen Ehering.
»Nein.«
»Was war das?«
»Stimmen, da bin ich mir ziemlich sicher. Tja, es klang fast wie ein Schrei.«
»Der Park ist geschlossen. Und außerdem - um diese späte Uhrzeit?«
»Ich weiß. Wann müsste Rudy zurück sein?«
»Jeden Moment.«
Ihr Mann spähte in die Nacht hinaus.
»Daddy?«
Er drehte sich um. Seine neunjährige Stieftochter stand im Eingang des Wohnmobils, mit T-Shirt, Jeansrock und alten Turnschuhen. »Amy, es ist Zeit zum Schlafengehen.«
»Ich helfe Mommy. Sie hat mich drum gebeten.«
Gandy war abgelenkt. »Meinetwegen. Wenn deine Mom das möchte. Aber geh wieder rein. Hier draußen ist es eiskalt.«
Das Mädchen wirbelte herum, sodass seine langen blonden Haare flogen.
Das Wohnmobil hatte zwei Türen, eine vorn und eine hinten. Gandy ging zu der hinteren, öffnete sie, nahm ein verschrammtes Jagdgewehr und lud es.
»Was machst du da, Schatz?«
»Ich gehe nachsehen.«
»Aber die Ranger …«
»Hier und jetzt gibt es keine. Schließ alles ab, zieh die Vorhänge zu, und mach niemandem auf, nur mir oder Rudy.«
»Ja, Liebling. Sei vorsichtig.«
Susan ging hinein, schloss die Tür und verriegelte sie. Dann verdunkelte sie die Fenster, sodass kein Licht mehr nach außen drang. Das leise Geräusch des Generators wurde weitgehend vom Wind übertönt. Gut.
Gandy zog den Reißverschluss seines Anoraks zu und setzte die graue Strickmütze auf, die Susan ihm zum Geburtstag gekauft hatte. Dann bog er auf den schmalen Pfad ein, der letztlich zum Joilet Trail führte. Das Gewehr lag in seiner Armbeuge.
Er stieß in südöstlicher Richtung vor. Sie waren jetzt seit vier Tagen hier, und er hatte die meiste Zeit die Umgebung durchwandert. Inzwischen kannte er sich recht gut aus und hatte mehrere Pfade gefunden, die von Rehen - zertrampeltes Laub, abgebrochene Zweige, Losung - und Menschen (dito, minus die Scheiße) stammten.
Gandy bewegte sich langsam und vorsichtig. Er hatte keine Angst, sich zu verirren, wusste jedoch nicht, wem er hier womöglich über den Weg laufen würde.
Ist das Geräusch nun ein Schrei gewesen oder nicht?, grübelte er.
Und falls ja, dann von einem Menschen oder von einem Tier?
Gandy ging zwei-, dreihundert Meter in die Richtung, aus der er das Geräusch vernommen zu haben glaubte. Dann kniete er sich hin und ließ den Blick durch den mondbeschienenen Wald schweifen. In nicht allzu großer Entfernung hörte er etwas knistern und knacken. Vielleicht ein fallender Ast, vielleicht ein Reh, vielleicht ein Bär.
Oder vielleicht meine dämliche Einbildungskraft.
Doch dann erstarrte er.
Dort, ja … Kein Zweifel. Er sah eine Person - eine Frau, da war er sicher -, die geduckt von Baum zu Baum huschte. Sie hielt etwas Langes, Dünnes in der Hand. Ein Gewehr? Er packte seine eigene Waffe, eine Savage 308, mit festem Griff.
Was hatte das zu bedeuten? Wieso schrie und heulte jemand so spät abends in einem menschenleeren und offiziell geschlossenen State Park? Sein Herz raste. Am liebsten wäre er zurück zum Wohnmobil gerannt und hätte sich sofort aus dem Staub gemacht. Aber der ratternde Dieselmotor könnte ungewollte Aufmerksamkeit erregen.
Während er so dahockte und die Frau beobachtete, fragte er sich, weshalb sie sich wie ein Soldat bewegte. Ganz behutsam, immer von Deckung zu Deckung. Sie war eindeutig kein Park Ranger. Sie trug weder den charakteristischen Hut mit der breiten Krempe noch die typische Uniformjacke. Das Ding sah eher wie ein Skiparka aus.
Sein Instinkt riet ihm, sie als Bedrohung einzuschätzen.
Die Frau verschwand hinter einem großen Brombeergebüsch und kam nicht wieder zum Vorschein. Gandy stand auf und ging mit erhobener Waffe in ihre Richtung.
Hau so schnell wie möglich ab, warnte eine innere Stimme.
Doch dann: Nein. Es steht zu viel auf dem Spiel. Geh weiter.
Er erreichte eine steile Böschung, die zum Waldboden hin abfiel, und stieg sie hinunter, wobei er sich mit der linken Hand an dünnen Birken- und Eichenschösslingen festhielt.
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