Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
ist da noch jemand.«
»Okay, dann gehen wir von vier aus.«
52
Das Seil, mit dem Gandy sie in dem viereinhalb Meter langen Laderaum des Transporters angebunden hatte, war dick und aus Nylon - also sehr belastbar, aber glatt. Es gelang Brynn endlich, es zu lösen. Das Isolierband an ihren Handgelenken gab nicht nach, aber sie schaffte es aufzustehen. Die Knöpfe der zweiflügeligen Tür am Ende waren vollständig versenkt, und sie konnte sie nicht herausziehen. Brynn ging nach vorn, stolperte über den Kardantunnel und schlug mit dem Kopf auf das Armaturenbrett. Benommen blieb sie einen Moment liegen. Dann richtete sie sich auf, wandte ihren Rücken dem Handschuhfach zu und öffnete es, wenngleich mit einiger Mühe. Es war leer, abgesehen von einigen Papieren.
Brynn ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und rang nach Luft. Ihre Bauchmuskeln taten höllisch weh, zum einen wegen ihrer Verrenkungen hier im Wagen, zum anderen wegen des Hiebs, den Gandys Frau ihr mit dem Knüppel verpasst hatte. Sie versuchte, den Entriegelungsknopf auf der Armlehne zu erreichen, doch er befand sich knapp außerhalb der Reichweite ihrer gefesselten Hände. Sie ließ den Blick durch den Rest des Fahrzeugs schweifen, über den Abfall, die Kartons, die Einkaufstüten. Es gab hier weder Waffen noch Werkzeuge. Oder Telefone. Sie lehnte sich zurück und schloss verzweifelt die Augen.
Dann schrie hinter ihr eine Frau auf.
»Michelle«, flüsterte sie. War sie zurückgekommen? Hatte man sie am See aufgespürt und hergeschleift? Brynn drehte sich um. Doch außer den Scheiben im Führerhaus besaß der Transporter nur zwei weitere Fenster, und zwar in den beiden hinteren Türflügeln. Sie waren vor Dreck fast blind.
Brynn sah in den Außenspiegel. Es stieg Rauch auf. Brannte das Wohnmobil? Meth-Labors waren berüchtigt dafür, dass sie in Flammen aufgingen.
Das kleine Mädchen ist da drinnen!, dachte sie erschrocken.
Die Stimme erklang erneut: »Nein, nein! Bitte!« Das war nicht Michelle, sondern Amys Mutter.
Dann einige Pistolenschüsse.
Der laute Knall einer Schrotflinte.
Vier oder fünf weitere Schüsse. Eine Pause, vielleicht zum Nachladen. Mehr Schüsse.
Stille. Dann eine Stimme, schrill vor lauter Angst oder Verzweiflung. Mann, Frau, Kind? … Brynn konnte es nicht sagen.
Ein Schuss.
Wieder Stille.
Bitte, ihr darf nichts geschehen sein. Bitte … Sie sah das Gesicht des kleinen Mädchens vor sich.
In dem Außenspiegel bewegte sich etwas. Eine Gestalt mit einer Pistole in der Hand umrundete das Wohnmobil und betrachtete es und das nahe Unterholz aufmerksam.
Dann wandte der Mann sich zu dem Transporter um, in dem Brynn saß.
Hektisch suchte sie nach etwas, mit dem sie ihre Hände freibekommen konnte. Schließlich schob sie sie über den Schalthebel zwischen den Sitzen und fing an zu scheuern. Es führte zu nichts.
Sie schaute nach draußen. Die Gestalt starrte nun den Lieferwagen an.
53
Sheriff Tom Dahl stand vor den zwei Leichen in der Küche: eine Geschäftsfrau Anfang dreißig, die offenbar nach der Arbeit ihre Schuhe ausgezogen und sich auf ein entspanntes Wochenende gefreut hatte, und ein stämmiger Mann im gleichen Alter mit zerzauster Studentenfrisur. Genau die Sorte Kerl, mit der man im Corner Place in Humboldt ein Bier trinken würde. Das Blut hatte sich zu riesigen Lachen ausgebreitet.
Obwohl Dahl so abgebrüht war wie die meisten Polizisten mit entsprechender Berufserfahrung, ging dieses spezielle Verbrechen ihm nahe. Die Todesfälle in Kennesha County waren überwiegend Unglücke und geschahen unter freiem Himmel. Erfrorene Obdachlose, die Opfer von Verkehrs- oder Arbeitsunfällen oder Sportler, die durch Naturgewalten starben. Diese armen jungen Leute hier ermordet in ihrem eigenen Haus zu sehen, war hart.
Er starrte ihre bleichen Hände an; die der typischen Toten in dieser Gegend waren gerötet und schwielig.
Und hinzu kam, dass sein eigener Deputy - sein geheimer Liebling im Department, die Tochter, die er gern gehabt hätte - vermisst wurde, nachdem es hier offensichtlich zu einem Schusswechsel gekommen war.
Er atmete langsam aus.
Schritte kamen nach unten. »Was ist mit der Freundin?«, wandte Dahl sich an Eric Munce, den Mann, den er nicht hergeschickt und stattdessen Kristen Brynn McKenzie angerufen hatte. Und den Mann, dessen Anwesenheit ihn ab jetzt für immer an diese Entscheidung erinnern würde, ganz gleich wie die Sache ausging.
»Die ist spurlos verschwunden.«
Immerhin. Er war sicher
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