Nachtseelen
sie das letzte Mal besucht hatte. Kaum hatte er den Entschluss gefasst, machte er sich auf den Weg zu ihr.
Mit einem müden Ãchzen spuckte der Bus der Linie 112 ihn an der Endhaltestelle in Ãvelgönne aus. Kleine Häuschen und verglaste, modern wirkende Gebäude zierten hier die Landschaft. Der kalte Wind sauste durch die Ãste der Bäume und riss die Blätter, die sich bunt zu färben begannen, von den Zweigen. Ãber den Himmel schlichen zinnfarbene Wolken, in denen sich wieder der Regen sammelte, vereinzelte Möwen kreisten über der Elbe. Vom Hafen am anderen Ufer tönte das metallische Gerumpel herüber, da die Kräne die Container abluden. Eine gelbe Barkasse mit Werbung zu dem Musical »Der König der Löwen« fuhr vorbei.
Finn versteckte seine klammen Hände in den Taschen der Jacke und stampfte durch die Pfützen, den Blick starr auf seine FüÃe gerichtet. Durch die Löcher in seinen Sneakers sickerte das Wasser hinein.
Keine Menschenseele begegnete ihm. Umso mehr überraschte es ihn, als eine Gestalt hinter einer Hausecke hervorsprang.
Finn schreckte zusammen. »Ylvi! Oh Gott, geh weg.
Du darfst dich nicht zeigen, verstehst du? Linnea will dich töten.«
Die junge Frau unterbrach ihn mit einem Fauchen. Ihre Hand schnellte vor, und sie packte ihn am Gürtel, wie zuvor in seiner Wohnung. Die Ratte auf ihrer Schulter schnupperte aufgeregt.
»Hör endlich auf damit!«, schrie er das Mädchen an, viel ruppiger, als er eigentlich beabsichtigt hatte.
Ylva jaulte und zischte aufgeregt, griff nach seinem Ãrmel und schüttelte ihn. Aber das war es nicht, was ihn veranlasste, ihr zu folgen. Ein Kribbeln breitete sich auf seinen Armen aus, wie von Ameisen. Er versuchte, es zu ignorieren, an alles Mögliche zu denken, bloà nicht an dieses Kitzeln. Manchmal half die Ablenkung. Aber heute nicht.
Das Gefühl drang ihm unter die Haut, und bald kam es ihm vor, als würden Sektbläschen durch seine Blutbahnen rauschen. Die Fingerspitzen prickelten, dann wurden sie taub.
Oh nein, alles, nur keine Verschmelzung, betete er insgeheim. Sein Körper brannte wie im Fieber. Er lehnte sich an eine Wand und rutschte zu Boden. Mit allen Sinnen kämpfte er gegen das sich anbahnende Unheil. Doch vergebens. Bald konnte er seine Hände nicht mehr spüren, während die Taubheit sich immer weiter ausbreitete. Finn stöhnte und klappte vornüber zusammen. Sein Gesicht fiel in eine Pfütze, und er schluckte das schmutzige Wasser, in dem er die Auswürfe der Millionenstadt beinahe schmeckte.
Das wird gleich vorbei sein, redete er sich ein. Ich bin stärker. Ich kann es aufhalten.
Aber der Vorgang war zu weit fortgeschritten. Das Kribbeln erreichte seinen Kopf. Er spürte, wie sein Geist flatterte und sich an den Körper klammerte.
Finn versuchte, sich an der Realität festzuhalten. Er musste sich anstrengen, um den Kopf zu heben und in Ylvas Augen zu schauen, die ihn mitleidig beobachteten. Dann verschwamm ihr Gesicht wie in einem Nebel. Er wusste nicht, wann er in seinen menschlichen Leib zurückgelangen, oder im Rotmilan geistig so gestärkt sein würde, um bewusst zu agieren. Manchmal vergingen Tage dabei.
Sein Körper wurde immer steifer. Finn zählte seine Herzschläge, bis er zu atmen aufhörte. Das Letzte, was er spürte, war die gewaltige Macht, die ihn aus seiner menschlichen Hülle riss.
Kapitel 9
L innea ging in ihrem Wohnzimmer auf und ab, auf der Flucht vor sich selbst, in der Befürchtung, innerlich zu verbrennen, sobald sie haltmachen würde. Sie achtete nicht darauf, wie der Rindenmulch, der an ihren FuÃsohlen klebte, in den Sand gelangte und die festen Tritte den Sand auf dem Rindenmulch verstreuten, so dass die Grenze zwischen den zwei Bereichen immer flieÃender wurde. Das Verlangen brodelte in ihr, beherrschte und lenkte sie. Ihr Herz schien zu kochen, pumpte das Blut durch ihre Adern und jagte Hitzewallungen durch ihren Körper. Es war der zweite Tag von etwa insgesamt sieben, und sie konnte es jetzt kaum noch ertragen.
Sie brauchte einen Mann.
Natürlich keinen von dem Menschenabschaum, sondern einen Metamorph, dessen Leidenschaft ihre innere Glut bezwingen sollte. Linnea schloss die Augen, stöhnte und kaute an den Lippen, bis sie Blut schmeckte. Oh, wie sehr sie ihn brauchte! Sie würde ihn verführen und alles von ihm nehmen, ihn völlig auszehren â
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