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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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Seiten. Die Tiere wüteten in ihren Zwingern, bissen und kratzten am Gitter, als wollten sie das Metall durchbrechen und jeden in Fetzen reißen, der ihnen unter die Klauen käme.
    Â»Opa! Wo bist du?«, kreischte sie, kniff die Lider zusammen und hielt sich die Ohren zu, doch auch dann drangen die Laute in ihren Kopf und brachten sie fast um den Verstand.
    Â»Scht.« Jemand nahm sie in den Arm und strich ihr über das Haar. Von der fremden Berührung überrascht, verkrampfte sich ihr Magen, bis sie beinahe brechen musste, dann fiel die Anspannung von ihr ab.
    In blindem Vertrauen schmiegte sie sich an ihren Beschützer, klammerte sich an die Hände, die sie kurz zuvor gekratzt und gebissen hatte.
    Der Lärm legte sich, nur ab und zu ertönte noch ein Winseln oder ein Fiepen, das jetzt mehr bettelnd und verstört klang.
    Sie schaute zu ihrem Tröster auf. Es war ein Junge, dem sie in der Schule bestimmt aus dem Weg gegangen wäre. Denn die Älteren, das wusste sie, waren nur gemein zu den Grundschulkindern. Sie fanden sich im Pausenhof zu Grüppchen zusammen, rauchten heimlich,
prügelten die Schwächeren. Einer von den Großen hatte ihr Tag für Tag aufgelauert, um sie herumzuschubsen, bis sie ihr Taschengeld herausrückte. Dem Opa musste sie vorlügen, sie bräuchte Geld, um Brötchen und Kakao in der Pause zu kaufen.
    Obwohl der Junge mit seinem verfilzten Haar und schmutzigen Hemd nicht vertrauenswürdig aussah, ließ sie es zu, dass er sie hielt und sanft hin und her wiegte, bis sie sich beruhigt hatte. Erst dann schob sie sich ein Stück von ihm weg. Sogleich kam es ihr vor, als wäre sie in die Dunkelheit und Kälte zurückgestoßen worden, einsam wie auf einer Insel, wenngleich der Junge nicht einmal einen Meter von ihr entfernt hockte.
    Aber er ließ sie nicht auf der Insel allein. »Wie heißt du?«, fragte er.
    Sie zog die Beine an und zupfte an dem Saum ihrer pinkfarbenen Hose, um ihre Knöchel zu verdecken. Den linken Schuh hatte sie verloren, und ihr großer Zeh ragte durch ein Loch in der Socke. Ihr Opa würde wegen der verdreckten und zerrissenen Kleidung schimpfen, auf seine liebenswerte Art, bei der sie nur noch kichern konnte. Dann stimmte er stets in ihr Kichern ein, und sie kicherten um die Wette.
    Â»Na gut«, fuhr der Junge nach einer Weile fort. »Du musst mir deinen Namen nicht verraten. Weißt du, wie mich die meisten nennen?« Er verwuschelte sein blondes Haar, neigte den Kopf und blickte keck unter den Strähnen hervor, die ihm in die Augen fielen. »Strolch. Schön peinlich, was?«

    Ihre Nase kribbelte. Mit der Handfläche rieb sie sich schnell die Spitze und konnte dennoch ein Schluchzen nicht unterdrücken. »Werden wir sterben?«
    Er setzte zu einer Antwort an, musste sich räuspern und flüsterte dann: »Nein, das werden wir nicht.«
    Ob er sich auch vor der Dunkelheit, den Tieren in den Käfigen und dem Schwarzen Mann fürchtete? Sie schob ihre Hand über den Boden, tastend, als ob sie nach der Keksdose suchte, die ihr Opa oben auf dem Regal in der Küche versteckte. Dann berührte sie seine Finger. Um ihn zu trösten. Um sich selbst zu trösten. »Warum sind wir hier?«
    Er erwiderte ihren Händedruck. »Das weiß ich nicht. Ich musste einkaufen. Da hat mich jemand gepackt und mir ein nasses Tuch aufs Gesicht gedrückt. Irgendwann bin ich in diesem Keller aufgewacht. Keine Ahnung, wie lange ich hier schon bin, die haben mir die Uhr abgenommen. Ich bin vermutlich wieder eingeschlafen, bis ich etwas gehört habe … und dann warst du da.«
    Â»Sind die Tiere krank?« Sie schielte zu den Käfigen. Als hätten die Bestien es gespürt, schwoll das Grollen und das Fiepen erneut an. Ein Vogel schlug mit den Flügeln. Dann kehrte Ruhe ein.
    Â»Tollwut. Vielleicht. Ich muss zugeben, Biologie habe ich immer geschwänzt. Aber es ist auf jeden Fall besser, wenn du nicht zu nahe rangehst.«
    Â»Ich will nach Hause. Bitte, bring mich nach Hause!«
    Er antwortete nicht, sondern zog seine Hand von der
ihren zurück, schlang die Arme um seine Beine und drückte die Stirn gegen die Knie. Sie tat es ihm gleich.
    Dunkelheit. Kälte. Ihre Insel.
    Wenn es auf ihrer Insel keinen Jungen gab, dann auch keine kranken Tiere und keinen Schwarzen Mann. Wenn sie die Augen schloss, gab es nichts mehr, außer ihr, der Dunkelheit und der

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