Nachtseelen
gehört, wie jemand zu ihr gekommen war, sie hatte keine Erschütterungen gespürt durch Schritte. Aber es stand dennoch jemand neben ihr, das wusste sie. Und ihre Kampfposition zählte nicht zu den besten: ohne Waffen, mit einer verletzten Hand, das Seelentier im Wohnzimmer hinter einer geschlossenen Tür.
Linnea hob den Kopf und sah die Frau, die an der Wand gegenüber lehnte, einen Teller in der Hand hielt und die Scheiben irgendeiner Frucht aÃ. Der süÃliche, exotische Duft strömte Linnea in den Mund.
»Oya?«, flüsterte sie. Beim Anblick der Mächtigen schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Nicht einmal der Schmerz in der Hand konnte die Panik vertreiben. Zu viele schreckliche Geschichten kursierten über die Hexen â ihr Auftauchen brachte nur Unglück. Ihre Namen laut auszusprechen war verboten.
Was wollte die Hexe von ihr? Letztes Mal war sie verschwunden, noch bevor Linnea etwas in Erfahrung bringen konnte.
Die Frau schob sich ein Fruchtstück zwischen die Lippen und stöhnte auf. »Mhhh. Papaya â wahrhaft göttlich! Auch ein Stück?«
Linnea schüttelte den Kopf. Mit der unverletzten Hand tastete sie nach der oberen Kante der Kommode und zog sich auf die Beine.
»Wie bist du in meine Wohnung gekommen?« Sie
bemühte sich höflich, aber nicht unterwürfig zu klingen. Gleichzeitig musste sie bei jedem Wort abwägen, ob es die Göttin nicht erzürnte.
»SüÃe, ich bin eine Hexe.« Die kehlige Stimme schien den gesamten Flur auszufüllen, als wären es die Wände, die sprachen. »Das Schattenreich ist mir zu Diensten. Ich rufe den Nebel, trete ein und komme dort heraus, wo ich hin möchte. Zugegeben, man muss sich damit schon etwas auskennen â kommt man mitten in einer Wand heraus, könnte das unangenehm werden.«
Nach diesen Worten schwieg sie. Die Mächtige hatte es anscheinend nicht eilig, den Grund ihres Besuchs zu erklären. Linnea dagegen hatte keine Ewigkeit zum Warten. Zwar blieb sie dank ihres Seelentiers lange jung, aber ihr Leben war endlich. »Letztes Mal hast du gar nicht gesagt, was für ein Angebot du mir unterbreiten möchtest.«
»Richtig. Ich wollte mich erst einmal vorstellen und nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen. Inzwischen hast du einiges über mich herausgefunden, nicht wahr?« Oya biss ins Fruchtfleisch, während sie sich hin und her wiegte, wie von einem Trommelrhythmus ergriffen. Ihre Bewegungen wirkten fremdartig, fast bizarr. »Kriegstänze, ich liebe Kriegstänze. Wenn du wüsstest, in welch eine Ekstase sie einen versetzen! Ach, wenn Yorubas Trommeln singen, kann ich nicht widerstehen.«
Linnea beobachtete einen Tropfen Saft â in ihrer Wahrnehmung intensiv blau -, der dickflüssig über das gelb leuchtende Gesicht der Hexe rann.
Abrupt hielt die Göttin inne. Ihr Ton wurde geschäftlich. »Nun, um auf unser Gespräch zurückzukommen: Ich mache mir Sorgen um unsere Welt. Sie ist herrenlos geblieben, und unter den Mächtigen herrschen Chaos und Verwirrung. Seit Kali fort ist, kümmert sich niemand mehr um die Ordnung der Dinge, und du kannst dir vielleicht vorstellen, dass man diese Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen sollte.«
»Kali ist fort? Wie meinst du das?« Linnea wusste nichts über die Hierarchien der Hexen, der Name Kali war ihr allerdings ein Begriff. Jene Gottheit, die für die Vernichtung und Erneuerung stand, die die Zeit beherrschte und über die Totenwelt wachte. Sie zerstörte, um Neues zu erschaffen, und säte Schrecken, um Erlösung zu schenken. Die Götter des Hinduismus zählten zu den mächtigsten, weil es viele Menschen gab, die mit ihrem Glauben ihre Existenz stärkten. Es wunderte Linnea keineswegs, wenn Kali zur Herrscherin über das Universum aufgestiegen war.
Oya machte eine abfällige Handbewegung. »Du hast sie doch kennengelernt und weiÃt, was â oder besser gesagt: wen â sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Sie ist nicht mehr die, die wir lieben und fürchten gelernt haben. Sie wird nur von Gefühlen beherrscht. Gefühlen!« Das letzte Wort spuckte sie wie Galle aus. »Was für eine Schande.«
»Ich verstehe nicht â¦Â«, begann Linnea, doch dann kam die Erkenntnis, einem Hammerschlag gleich. »Moment â Evelyn ist Kali?«
Natürlich wusste sie, dass ihre Tochter und Erzfeindin eine Hexe war
Weitere Kostenlose Bücher