Nachtseelen
in diesem Haus, da könntest du hier gleich einziehen.«
Alba fuhr herum und sah Georg auf der Schwelle stehen. Anscheinend hatte er es aufgegeben, mit ihr zu schimpfen oder sie überzeugen zu wollen, die Angelegenheit zu vergessen.
Sorge zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Die Schatten unter seinen Augen lieÃen das Schiefergrau der Iris matt erscheinen.
Er lächelte und hielt eine McDonalds-Tüte in die Höhe. »Wann hast du das letzte Mal gegessen?«
Ihr Magen knurrte wie ein Raubtier, sobald sie auch nur ans Essen dachte. Das war Antwort genug.
Georg zwinkerte ihr zu. »Was würdest du bloà ohne mich machen?«
Der Arbeitstisch war mit Papierbergen überhäuft, so setzte sich Alba auf den Boden und klopfte einladend neben sich. Georg gesellte sich zu ihr und stellte die Tüte zwischen ihnen ab.
»Schon etwas Interessantes im Nachlass deines GroÃvaters entdeckt?« Seine rechte Hand zuckte unkontrolliert in die Höhe. Am Ende der Bewegung zupfte er geistesabwesend an seinem Hemdkragen, ganz so, als wäre das vorherige Zucken beabsichtigt gewesen.
Alba wurde es eng ums Herz. Zu gut wusste sie, was wirklich dahintersteckte. Sie strich ihm über den Arm. Du musst nichts verbergen, dich nicht verstellen. Nicht für mich. Wir stehen es durch.
Zusammen.
Bis zum bitteren Ende.
Das hatte sie ihm versprochen, als die Ãrzte die
Diagnose verkündet und damit einen Strich durch seine Zukunft gezogen hatten.
Er verstand sie, ohne dass sie auch nur ein Wort verlieren musste, und berührte mit den Lippen ihre Finger. Berührte ihren Körper, aber nicht ihre Seele, die unempfänglich für seine Zärtlichkeiten blieb. »Iss etwas.«
Alba nahm sich einen Burger aus der Pappschachtel. Es war seltsam, neben ihrem Freund zu sitzen, der sich stets zu fein für solch ein Essen war und schon gar nichts auf dem Boden verzehren würde. Doch der Hunger stampfte all ihre Gedanken nieder. Gierig biss sie in den Burger und kaute, als höre die Welt um sie herum auf zu existieren, und das Einzige, was blieb, waren sie und das Brötchen. Erst als sie die letzte Pommes verschlungen hatte, kehrte sie geistig in die Realität zurück.
Georg wischte ihr mit dem Daumen etwas Mayo aus dem Mundwinkel. »Nach dem Tod deines GroÃvaters erkenne ich dich kaum wieder. Es ist mir schon klar, dass das Ganze dich ziemlich aufgewühlt hat. Aber meinst du nicht, dass es langsam gut ist?«
Nein, das meinte sie nicht. Wie konnte sie denn aufhören, jetzt, da sie im Begriff war, sich selbst zu verstehen? Und das hing nun einmal mit ihrer Vergangenheit zusammen. Je weiter sie sich in die Sache vertiefte, desto mehr erwachte eine andere Alba in ihr. Eine, die sich nicht mit unbeantworteten Fragen zufriedengab. Egal, was die Nachforschungen auch bringen mochten, sie weigerte sich, wieder in ihren früheren Dornröschenschlaf
zu fallen. Mit dem behüteten Leben war es für sie vorbei.
Georg seufzte und neigte den Kopf. Strähnen seines sorgsam gestylten Haars fielen ihm in die Stirn und brachten eine liebenswerte Unordnung in sein Aussehen. Doch gleich strich er sie wieder glatt. »Das dachte ich mir schon. Nun. Ich habe etwas für dich.«
Er hielt ihr ein Blatt vor die Nase. »Mandy Fabel« stand in seiner geschwungenen Handschrift darauf. Und eine Adresse.
Alba runzelte die Stirn. Fabel â diesen Namen hatte sie in den Notizen ihres Opas gefunden. Auf dem schmutzig weiÃen Blatt mit der verblassten Tinte.
»Vielleicht ist es deine Art, die Sache zu bewältigen«, fuhr Georg fort. »Deine Mutter meinte, ich solle dir Zeit lassen. Wie auch immer. Der Freund eines Freundes schuldete mir noch einen Gefallen. Auf jeden Fall bin ich an die aktuelle Adresse von dieser Mandy gelangt, sie ist die Schwester eines der toten Kinder. Vielleicht kannst du, wenn du mit ihr redest, das Ganze schneller hinter dir lassen. Denn ich vermisse dich. Ich vermisse die alte Alba, mein kleines Mädchen.«
Glaubte er tatsächlich, dass die alte Alba jemals zurückkehren würde? Wenn das kleine, vergessene Mädchen in ihr wirklich zum Vorschein käme, würde nichts mehr sein wie zuvor. Dennoch war sie Georg für die Adresse dankbar. Ihr Opa hatte ihr ein verwirrendes Puzzle hinterlassen, dessen Bild sie nicht kannte und von dem so viele Teile fehlten. Vielleicht würde sie bei
dieser Mandy ein paar Fakten in Erfahrung bringen und
Weitere Kostenlose Bücher