Nachtseelen
die Lücken füllen können?
»Ich fahre dich hin«, bot Georg an und lieà den Schlüssel seines Porsches vor ihren Augen pendeln.
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Mandy Fabel wohnte in einem gepflegten Mehrfamilienhaus in Ammersbek, einer kleinen Stadt direkt an Hamburgs Grenze, die bei den Ortsansässigen den Spitznamen Ampelsbek trug. Und das zu Recht. Sechs oder sieben Ampeln â Alba war sich nicht sicher, ob sie beim Zählen alle erwischt hatte â leuchteten, sobald man sich ihnen näherte, rot auf, und das auf einer Strecke von nicht einmal zwei Kilometern. Es herrschte Rushhour, deshalb staute es sich, und Alba fragte sich, ob sie aussteigen und den Rest zu Fuà bewältigen sollte.
Nach einer halben Stunde stockenden Verkehrs gelangten sie ans Ziel.
An der Haustür drückte Georg gleich auf mehrere Klingeln, und irgendjemand öffnete ihnen, ohne Fragen zu stellen oder etwas durch die Sprechanlage zu sagen. Vermutlich wusste Frau Fabel nichts von dem Besuch, und Georg befürchtete, gleich abgewimmelt zu werden.
Albas Mund fühlte sich trocken an, als sie endlich vor der Wohnung standen. Was tat sie hier, warum war sie gekommen? Genügte es ihr nicht, dass sie keine Ruhe fand, musste sie auch andere mit in die Sache hineinziehen?
Doch nun war es zu spät. Georg klingelte.
Eine dürre Frau mit einem Bob öffnete die Tür. Das
schwarz gefärbte Haar lieà sie noch blasser aussehen, und die glatten Strähnen machten ihr Gesicht noch kantiger. Allein ihre Augen passten nicht in das Bild: aufgeweckt und lebhaft, zeugten sie von einer wahren Kämpfernatur, die hinter der unscheinbaren Erscheinung schlummerte.
Fragend zuckte ihre Augenbraue hoch.
Georg ergriff das Wort. »Frau Fabel? Ich weiÃ, es muss Ihnen etwas seltsam erscheinen, aber ich bitte Sie, uns zu helfen. Es geht um Ihren Bruder Robert.«
Sie öffnete den Mund, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen, und schloss ihn wieder. Alba bemerkte, wie die Frau sich innerlich sammeln musste, um zu antworten: »Ich verstehe nicht. Robert ist tot. Bereits seit zwölf Jahren.«
»Ich weiÃ. Und es tut mir unendlich leid. Aber in dem Fall sind neue Fakten aufgetaucht, denen wir nachgehen. Würden Sie uns vielleicht ein paar Fragen beantworten? Es ist sehr wichtig.«
Jedem anderen hätte die Frau vermutlich die Tür vor der Nase zugeschlagen, doch Georg besaà so eine Ausstrahlung, dass sie ihn und Alba tatsächlich hereinlieÃ.
Der Duft nach warmem Apfelkuchen kitzelte Albas Nase. Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer stand eine Tasse mit dampfendem Kaffee, ein Buch lag auf dem Sessel aufgeschlagen, und eine Plüschdecke war auf den Boden gerutscht. Goldgelbe Vorhänge erweckten sogar an diesem tristen Herbsttag den Eindruck, als schiene die Sonne herein.
Mandy Fabel holte zwei weitere Tassen und brachte Teller mit Apfelkuchen herein, ohne ihre Besucher danach überhaupt zu fragen. Alba schämte sich, die Gastfreundlichkeit der Frau so auszunutzen. Georg dagegen räumte das Buch weg und setzte sich in den Sessel. Er lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und genoss seinen Kaffee. »Erinnern Sie sich noch, was damals vorgefallen war?«, fragte er im Plauderton.
Die Frau schlug die Augen nieder und zog die Plüschdecke über ihre Beine. »Ja.«
»Erzählen Sie uns bitte alles, was Sie wissen.«
Sie schwieg. Alba bemerkte, wie schwer es Mandy fiel, die Erinnerungen zuzulassen. Am liebsten wäre sie aus der Wohnung geflüchtet. Welches Recht besaà sie, in das Leben dieser Frau zu platzen und die alten Wunden aufzureiÃen?
»Ich verstehe, wie Sie sich fühlen«, sagte Georg mit seinem fürsorglichen Charme, der jeden zu umgarnen vermochte. »Aber es ist wichtig. Meine Freundin â¦Â« Er deutete auf Alba. »⦠hat all das durchgemacht, was Robert durchmachen musste. Nur hatte sie etwas mehr Glück und überlebte.«
Die Frau blinzelte. Als sie aufschaute, schimmerten ihre Augen feucht. »Wurden Sie auch von Ihrem Vater verkauft?« Ihre Stimme klang dumpf wie eine Porzellanschüssel mit einem Sprung.
»W-w-was?«, schnaubte Alba. Alles wirbelte in ihrem Kopf herum, und sie vermochte es nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Verkauft! , donnerte es
in ihrem Schädel. Ein Wort. Ein stummer Schrei in der Stille.
Mandy senkte den Blick wieder. »Also nicht.«
Georgs Rechte
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