Nachtseelen
gefährlich werden kann. Doch Evelyn wird das
nicht tun. Sie liebt diesen Nachzehrer und will bei ihm bleiben. Den Körper zu wechseln, kann sie sich nicht erlauben, denn dann käme er dahinter, was sie wirklich ist. Und ich glaube nicht, dass er mit einer Hexe kuscheln möchte.«
»Aber warum willst du sie beseitigen?«
»Die Ordnung der Welt, meine Liebe. Die Ordnung der Welt. Wenn Kali sich einen ScheiÃdreck um die Welt kümmert, muss den Job ein anderer übernehmen. Warum nicht ich? Es ist lange an der Zeit, dass sich einiges im Universum ändert. Zum Beispiel«, sie beugte sich vor, »finde ich es ungeheuerlich, dass du und deine Art sich vor der Menschenbrut verstecken müssen. Die Menschen halten sich für die Krönung der Schöpfung, aber haben sie die Welt verdient? Nein! Sie rotten alles aus, was sie berühren, sich selbst eingeschlossen. Alte Werte bedeuten ihnen nichts, und sie haben schon längst vergessen, wem sie all den Fortschritt und Wohlstand zu verdanken haben. Sie wenden sich von den alten Göttern ab, sobald sie sie nicht mehr brauchen. Es ist längst überfällig, dass jemand sie das Fürchten lehrt. Dass sie sich erinnern, aus welchem Dreck sie gekrochen kamen. Ich bin hier, um die Welt zu retten.«
»Und Kali steht deinem Plan im Weg«, mutmaÃte Linnea.
»Sie hat ihn nie gebilligt. âºStöre nicht den Strom des Fortschrittsâ¹, sagte sie immer, âºdas Universum ist stets im Wandel.â¹Â« Oya redete sich in Rage. Ihre Stimme donnerte und lieà alles ringsherum vibrieren. Ein trockener,
heiÃer Wind erhob sich im Flur und fegte über die Dielen. »Das Alte hat ausgedient, das Neue wird es ersetzen. Sie spricht von uns, den Göttern des Altertums, wie von einem abgenutzten Handschuh. Pah!« Mit dem letzten Wort ging ein Kraftstoà von der Mächtigen aus. Die Kristallschale auf der Kommode zersprang, und die Splitter schossen in alle Richtungen. Obwohl Linnea ihre Arme hochriss, um ihr Gesicht zu schützen, ritzten ihr einige Scherben Wunden in Stirn und Wangen.
Oya verharrte. Der Wind legte sich. »Entschuldige. Es macht mich einfach rasend vor Wut!«
Finn hatte also Recht, als er behauptete, die Orisha neige zu Wutausbrüchen. Keine gute Voraussetzung für eine Herrscherin des Universums, aber war Kali so viel anders gewesen?
»Würden die anderen Götter nicht auch die Position einnehmen wollen?«
»Sicher. Aber mach dir darum keine Sorgen. Ich kann sehr überzeugend sein.«
»Du scheinst alles im Griff zu haben. Wozu brauchst du mich?«, sprach Linnea. Wie viel konnte schon eine Metamorphen-Königin in einem Gotteskrieg ausrichten? Und das mit einer Gemeinde, die nur eine Handvoll Mitglieder zählte.
»Ich sehe, wir werden uns verstehen. Kali soll nicht erfahren, dass ich hinter dem Plan stecke. Ich will ihr keine Chance geben, gegen mich vorzugehen, wenn der Anschlag auf ihr Leben misslingt.«
Ob das alles war? Linnea spürte, dass es noch einen
Grund geben musste. Einen Grund, den die Mächtige nicht verraten wollte.
»Hilf mir, sie zu vernichten. Und dein Schaden soll es nicht sein.« Oya lachte und bot ihr wieder von dem Teller an, den sie noch in der Hand hielt: »Bist du dir sicher, dass du kein Stück möchtest? Es ist nur noch eines übrig geblieben.«
Kapitel 10
A lba saà im Arbeitszimmer ihres GroÃvaters und versuchte, sich in seinen Notizen zurechtzufinden, wie schon seit Tagen. Allein seine Krakelschrift zu entziffern stellte eine Herausforderung dar. Am meisten hatte sie an den medizinischen Ausführungen zu knabbern. Teilweise kam es ihr vor, als wären die Sätze nicht auf Deutsch, sondern auf Latein geschrieben, so sehr waren sie von der toten Sprache durchdrungen. Es stand dort etwas von Rabies, von Lyssaviren, und Alba war mächtig stolz auf sich, als sie herausfand, dass es dabei um Tollwut ging. Doch als die Rede auf Einzel(-)-Strang-RNA-Viren kam und Zeichnungen von DNA-Spiralen und chemischen Verbindungen folgten, die an überdimensionale Schneeflocken erinnerten, stieg Alba aus. Eher zum Spaà als der Informationen wegen blätterte sie weiter in den Papieren, betrachtete Mikroskopbilder kontaminierter Zellen, bei denen sie an auÃerirdische Landschaften denken musste, und legte schlieÃlich die Notizen beiseite. Ohne fachliche Hilfe würde sie nicht weiterkommen.
»Du hockst so oft
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