Nachtseelen
es
ist ein Selbstbetrug zu behaupten, ich würde mich dann besser fühlen.«
Alba kam es vor, als höre sie sich selbst durch die Lippen der Frau reden. Denn auch sie hatte durch ihr Schweigen Schuld auf sich geladen, egal, was Georg behauptete.
»Ich habe Glück im Unglück gehabt«, fuhr die Frau fort. »Und das macht alles nur noch schwerer.« Mit einer Hand deutete sie um sich. »Das alles habe ich nicht verdient.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte er.
»Die toten Kinder haben viel Aufsehen erregt. Medien berichteten über die Hinterbliebenen, ein Spendenkonto wurde eingerichtet. Von diesem Geld habe ich natürlich nichts gesehen, mein Vater investierte es in Alkohol und Drogen. Aber dann lernte ich eine Frau kennen, die, genauso wie die anderen, von den Ereignissen schockiert war. Sie arbeitete als Leiterin eines Tierheims, und ich durfte dann dort aushelfen. Für mich war das ein Schlupfloch, eine Möglichkeit, dem mir verhassten Vater zu entfliehen. Ich verbrachte bei ihr viel Zeit, bekam warme Mahlzeiten zu essen, konnte in Ruhe meine Hausaufgaben machen. Dort entdeckte ich meine Leidenschaft für Tiere und studierte nach dem Schulabschluss Veterinärmedizin. Nicht nur ich fand dort Hilfe. Ich kann mich an eine Frau erinnern, deren Tochter wie Robert gestorben war; an einen Jungen, der seinen Bruder verloren hatte ⦠Juliane Dwenger hat uns mehr geholfen als alle Spenden zusammen.
Vor ein paar Jahren ist sie in Rente gegangen, aber ich habe noch immer Kontakt zu ihr.«
Alba prägte sich den Namen ein. Ob diese Juliane Dwenger etwas mehr über die Fälle wusste? Immerhin hatte sie Kontakt zu einigen Hinterbliebenen gehabt. Womöglich hatte sie die eine oder andere Einzelheit aufgeschnappt, die Alba weiterbringen könnte.
»Danke für Ihre Gastfreundschaft.« Georg stellte seinen leeren Teller auf den Tisch. Weder Alba noch Mandy hatten ihren Kuchen angerührt, auch der Kaffee blieb nun lauwarm in der Tasse. »Und natürlich für die Informationen. Es war sehr freundlich von Ihnen, mit uns zu sprechen.«
Wenige Minuten später standen Georg und sie auf der StraÃe. Alba war froh, an die frische Luft zu gelangen. Hier fiel es ihr leichter, das Ganze zu ordnen und zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte.
»Bitte, lass die Sache ruhen.« Georg umarmte sie. »Es ist schon so viel Zeit vergangen. Und ich sehe doch, wie sehr dir das alles zusetzt.«
Alba zupfte an ihren Haarspitzen. Sie wollte reden. Ãber ihre Zweifel an ihrem Opa, über ihre Schuld und Ãngste. Die Gefühle sprudelten in ihr, doch es gelang ihr nicht, sie in Worte zu kleiden. Sie versuchte es trotzdem.
»I-i-ich â¦Â«, fing sie an, da drückte Georg sie noch fester an sich.
»Lass es ruhen«, wiederholte er. »Wenn schon die Polizei nichts gefunden hat, was können wir denn tun?«
Alba verstummte. Ja, was konnte sie schon tun?
Andererseits â es gab noch Juliane Dwenger, ihren Strohhalm in diesem Durcheinander. Sie würde die Frau aufsuchen, ohne Georg. Und wenn auch diese nichts erzählen konnte, dann würde sie ihre Suche abbrechen. Versprochen.
Im Geiste kreuzte sie zwei Finger.
Â
Noch am selben Tag fand sie die Adresse heraus, was keine groÃe Herausforderung darstellte, denn auch Frau Dwenger stand im Online-Telefonbuch. Zumindest hoffte Alba, die richtige Frau Dwenger aufgespürt zu haben. Unter dem Vorwand, sie müsse in die Werkstatt, um ihre Corvette zu reparieren, entzog sie sich Georgs Aufsicht und fuhr los. Hermanns Notizen über die Tollwut nahm sie mit. Zwar hätte Mandy Fabel ihr viel eher helfen können, aber vielleicht konnte auch die ehemalige Leiterin eines Tierheims etwas mit den medizinischen Ausführungen anfangen und ihr weiterführende Infos vermitteln.
Nach zwanzig Minuten kam sie in der Nähe ihres Ziels an. Alba parkte das Auto am Kai neben dem Restaurant Elbwarte , das mit seiner Glaskuppel an eine Sternwarte erinnerte. Das Wetter war wieder sommerwarm geworden, der strahlend blaue Himmel erstreckte sich über der Stadt, und so beschloss Alba, den Rest des Weges zu Fuà zu gehen.
Sie musste ein Weilchen herumirren, bevor sie zu dem gesuchten Haus gelangte, das mit seinen MaÃen
und Verzierungen wie ein Spielzeug wirkte. Knusper, Knusper, Knäuschen â¦
In dem kleinen, gepflegten Garten stutzte eine Frau die Rosensträucher und wickelte
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