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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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wollte, zuckte zusammen und schüttete sich das heiße Getränk auf die Jeans. »Was?«
    Juliane schien es nicht zu bemerken. Sie nahm einige Schlucke zu sich, den verklärten Blick aus dem Fenster gerichtet. »Wir waren nicht viele, aber eine überaus starke Gemeinschaft. Alle für einen und einer für alle. Meine Untertanen vertrauten mir und wären mir überallhin gefolgt, ohne dass ich sie dazu hätte zwingen müssen.
Wir waren nicht nur eine Gemeinde, nein, wir waren eine Familie. Bis Linnea mit ihren Gefolgsleuten in die Stadt kam. Es war unser Territorium, es aufzugeben, waren wir nicht bereit. Aber einen Krieg wollte ich genauso wenig, denn das hätte bedeutet, Blut zu vergießen. Das Blut meiner Leute. Also suchte ich Linnea auf und schlug ihr einen Waffenstillstand vor. Wir kamen überein, Hamburg zu teilen und darauf zu achten, einander nicht in die Quere zu kommen, zumal sie mir versicherte, nur auf der Durchreise zu sein. Woher sollte ich wissen, dass dieses hinterhältige Miststück ganz andere Pläne schmiedete? Eines Tages griff sie uns an. In diesem Kampf sind viele meiner Leute gefallen und mein Seelentier auch.«
    Â»Welches war es?«
    Â»Eine Amsel.«
    Finns Blick schweifte durch den Raum. Aha, hatte er sich doch nicht getäuscht! Auf einem Regal entdeckte er einen ausgestopften schwarzen Vogel, der aus seinen künstlichen Augen auf ihn herabschaute.
    Â»Ja, das ist sie. Sunny.« Ihre Hände zitterten, und die Tasse klapperte auf der Untertasse. Sie stellte ihren Tee zurück auf den Tisch. »Nachdem Sunny gestorben war, hörte ich auf, ein Metamorph und somit die Königin zu sein. Linnea hat mir alles genommen, was mir lieb und teuer war, was mich definiert hat.« Juliane streifte sich den pfirsichfarbenen Blazer von den Schultern, knöpfte ihre Bluse ein Stück auf und drehte den Kopf zur Seite. Von ihrem Kinn aus verlief eine blasse Narbe über ihren
Hals zur Schulter. Julianes Unterlippe bebte, ob vor Hass oder vor Schmerz in Anbetracht der Erinnerungen, vermochte Finn nicht zu sagen. »Das hat sie mir zugefügt, als ich bereits bezwungen war. Sie ließ mich sterbend zurück, doch ich überlebte, was sie nicht weiter kümmerte, denn ich war keine Gefahr mehr für sie. Meine Gemeinde zerfiel, ohne Königin konnte sie nicht existieren. Einige machten ein Initiierungsritual mit und schlossen sich Linnea an, die anderen gingen fort. Und ich musste irgendwie allein klarkommen und ein Leben als Mensch führen. So gründete ich ein Tierheim und beschäftigte mich mit Tieren, eben mit dem, was ich am meisten liebte. Kein guter Trost, aber auf mehr durfte ich nicht hoffen.« Ihre graublauen Augen füllten sich mit Tränen.
    Finn wusste nicht, was er tun sollte, denn er hatte seine Oma noch nie weinen sehen. Sie war die stärkste Frau, die er kannte. Nur selten ließ Juliane Gefühle zu. Sie betrachtete deren Ausleben als Schwäche. Sie war eine Frau, die Finn in den schlimmsten Lebenssituationen Halt gab. In ihrer Gegenwart verschwanden seine Ängste und Zweifel, und was blieb, war eine seltsame Gefühlsstumpfheit. Jetzt kauerte sie auf dem Sofa und weinte leise, was sein Herz fast zerspringen ließ.
    Er setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Juliane legte ihren Kopf an seine Schulter. Ihre Tränen durchnässten sein T-Shirt. Sie roch nicht mehr nach dem frischen Parfüm, sondern nach einer alten Frau.
    So verbrachten sie eine Viertelstunde, bis Juliane sich
abrupt aufrichtete und sich von ihm ein Stückchen wegsetzte.
    Â»Verzeih mir diese Gefühlsduselei«, stammelte sie, holte ein Taschentuch und putzte sich die Nase. »Ach Kleiner, du hast doch gar nicht deinen Tee getrunken.«
    Finn schmunzelte. Wieder seine Oma, die sich mehr um die anderen kümmerte als um sich selbst.
    Â»Und meine Eltern?«, fragte er, ohne den Tee zu beachten, der inzwischen bestimmt kalt geworden war. »Gehörten sie zu den Metamorphen?«
    Â»Nein.« »Also waren sie Anwärter.« Das hatte er sich schon fast gedacht. Über seinen Vater wusste er zu wenig, aber seine Mutter hasste alle Tiere. Und Menschen sowieso. Ein Seelentier an ihrer Seite konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. »Deshalb dachtest du, ich würde auch keiner sein, nicht wahr?« Er lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. »Bitte sag mir, wie ich damit klarkommen

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