Nachtseelen
Glück ist die Antipathie gegenseitig.«
»So, so. Es würde schon helfen, wenn du deinem Seelentier wenigstens einen Namen gibst. Du wirst es kaum glauben, aber das erzeugt eine gewisse Nähe.«
»Ach!«, redete er sich in Rage, »seit wann bist du eine Expertin in puncto Metamorph-Leben? Du warst nicht
gerade lange eine von uns und hast dich schlieÃlich für deinen Leichenfreund entschieden.«
Ihre Miene verfinsterte sich. Die nussbraunen Augen blickten ihn kalt und starr an, die Pupillen weiteten sich und lieÃen ihn erschaudern, doch Evelyn bekam sich wieder unter Kontrolle. »Das ist richtig«, antwortete sie ausdruckslos. »Und ich bereue es keine Sekunde.«
Finn strich sich durch das Haar. Was war bloà in ihn gefahren? Er kam sich vor wie ein Hund, der in eine Ecke gedrängt wurde und um sich biss, egal, ob Freund oder Feind vor ihm stand. Verflucht, inzwischen konnte er nicht einmal mehr den einen vom anderen unterscheiden. Noch vor nicht allzu langer Zeit gehörten die Totenküsser zu seinen schlimmsten Feinden, heute suchte er Hilfe bei ihnen.
Vor Verzweiflung hätte er schreien können. Begann so der Wahnsinn eines jeden unerfahrenen Metamorphen, der von der Gemeinde getrennt wurde? Hatte Ylva das Gleiche erleben müssen, bevor sie völlig den Verstand verlor? Kilian meinte einst, es finge immer schleichend an. Mit Verwirrtheitszuständen und Gefühlsschwankungen, Depressionen und unnötiger Aggressivität. In den letzten Tagen beobachtete Finn diese Symptome immer häufiger an sich, hatte jedoch gehofft, sie mit Stress erklären zu können. Vielleicht war es an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken? Er wurde verrückt â¦
Evelyn wollte die Tür schlieÃen, doch er hinderte sie daran. »Warte. Es tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint. Diese ganze Sache â¦Â«
Sie lächelte ihm zu und tätschelte ihm die Schulter, so dass es ihn einige Ãberwindung kostete, nicht zurückzuweichen. »Schon okay. Rede du erstmal mit deiner Oma. Bis dahin ist sicherlich auch Adrián zurück, und dann sehen wir weiter.«
Finn nickte. Immerhin war er nicht allein. Noch nicht zumindest.
»Danke.« Er ging einige Stufen hinunter, dann drehte er sich zu Evelyn um, die noch immer auf der Schwelle stand. »Ich werde über einen Namen nachdenken. Versprochen.«
Mit gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg zu seiner Oma. Er war ihr vieles schuldig, und dennoch grämte es ihn, dass sie ihm nie etwas über sein Metamorph-Leben erzählt hatte. Es hatte ihn vollkommen unvorbereitet erwischt und in eine Sinnkrise gestürzt, in der er mit jedem Tag mehr ertrank. In die Gemeinde und ihre Welt der Dominanz und der Unterordnung konnte er sich nicht einordnen. Das sah er ganz klar. Er wollte fort. Frei sein. Es gab keinen Weg zurück.
Inzwischen ging es ihm nicht mehr nur um Freiheit, sondern ums blanke Ãberleben. Er brauchte Antworten. Würde seine Oma ihm diese geben können? Er wusste nicht einmal, ob sie ebenfalls ein Metamorph war, nur dass sie anscheinend über seine Situation Bescheid wusste.
Die alte Dame öffnete ihm die Tür, wie immer modisch angezogen und duftend nach ihrem gewohnten Parfüm, das ihn an seine Jugendjahre denken lieÃ. Der
Duft weckte Erinnerungen, die nicht sonderlich angenehm waren. Damals hatte er sich oft am Hauptbahnhof herumgetrieben, stand am Geländer der Wandelhalle und beobachtete Züge, die unter ihm an- und abfuhren. Unzählige Menschen liefen um ihn herum, der Lärm des Bahnhofs betäubte ihn, und dennoch fühlte er sich allein. Jedes Mal malte er sich aus, wie es wohl wäre, sich in einem der Waggons zu verstecken und in ferne Länder zu fliehen. Ans Meer. Oder in die Berge. Inzwischen war er Mitte zwanzig und hatte noch nie das offene Meer gesehen. Er war nicht einmal an der Ostsee gewesen, die nur knappe 80 Kilometer von Hamburg entfernt lag. In einen der Züge einzusteigen, hatte er sich nie getraut. Das Einzige, was der Bahnhof ihm also gebracht hatte, war ein Hass auf klassische Musik, wie sie dort stets aus den Lautsprechern dudelte.
Finn schüttelte die Gedanken ab. Er durfte den Stimmungsschwankungen nicht erlauben, die Ãberhand zu gewinnen. Sonst würde er noch tiefer in die Krise stürzen und damit sein Ende besiegeln.
Seine Oma trat zur Seite und lieà ihn vorbei. »Komm rein, mein Junge. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher