Nachtsplitter
behandelt. Dass ich alt genug war, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen, drang nur
ganz allmählich in ihr Bewusstsein.
Auf dem Weg zur Tür musste ich aufstoßen. Saurer Sektgeschmack stieg meine Kehle hinauf und ich hielt mir automatisch die
Hand vor den Mund. Pia schwang sich kichernd ihren Rucksack über die Schulter.
»Ups!« Ich kramte in meinen Taschen nach einem Kaugummi. Stattdessen fand ich ein altes, leicht verklebtes Pfefferminzbonbon
und steckte es in den Mund. »Kann losgehen.«
Ich löschte das Licht und wir verließen das Haus.
Es dämmerte, als wir uns auf unsere Räder schwangen und losradelten. Es war immer noch sehr warm, doch der Fahrtwind brachte
zumindest ein bisschen Kühlung. Er wehte meine Haare nach hinten und blies meinen schwarzen Falten-Minirock hoch. Ein paar
Jungs, die uns auf dem Bürgersteig entgegenkamen, pfiffen anerkennend. Ich ignorierte sie.
Wir fuhren langsam, obwohl wir spät dran waren. Markus würde bestimmt schon warten, aber das machte mir nichts. Falls ich
deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, war es in einer Mischung aus lauwarmem Sekt und Partylaune ertrunken. Außerdem
war es einfach zu schwül, um sich zu beeilen.
Pia atmete tief ein. »Diese Nacht riecht nach jeder Menge Party, Spaß und Sex! Ich muss heute unbedingt einen Typen klarmachen,
sonst sterbe ich.«
»Paul?«, fragte ich, während die Häuser in Zeitlupe an uns vorbeizogen. Aus den geöffneten Fenstern drangen Stimmen, Fernsehgeräusche
und der Geruch nach Bratkartoffeln mit Speck. Irgendjemand hörte Volksmusik. Für einen Moment hatte ich das seltsame Gefühl,
durch eine Theaterkulisse zu fahren.
Pia verzog das Gesicht. »Quatsch! Mit Paul wird's allmählich langweilig. Außerdem scheint er die falschen Schlüsse zu ziehen.
Er hat letzte Woche dreimal versucht, mich anzurufen. Denkt er, wir wären jetzt zusammen oder so was, bloß weil wir ein paarmal
im Bett gelandet sind?«
Pia hatte noch nie eine längere Beziehung gehabt. Dafür aber jede Menge Sex. Sie schleppte fast jedes Wochenende einen anderen
Typen ab. Dass ihre Wahl mehrmals hintereinander auf denselben fiel, war die absolute Ausnahme. Im Vergleich dazu war mein
Liebesleben ziemlich langweilig. Markus und ich waren seit einem halben Jahr zusammen. Erst lief es ganz gut, doch seit einer
Weile kriselte es. Das anfängliche Kribbeln, das ich in seiner Gegenwart ständig gespürt hatte, machte sich immer seltener
bemerkbar, dafür stritten wir uns umso öfter. Ich hatte mich sogar schon gefragt, warum ich überhaupt noch mit Markus zusammen
war. Ich schob den Gedanken schnell beiseite, bevor ich schlechte Laune bekam.
»Warum probierst du's nicht mal ernsthaft mit Paul?«, fragte ich. »Ich finde ihn echt nett.« Ich wich einer dicken, getigerten
Katze aus, die am Ortsrand majestätisch über die Straße stolzierte.
Pia zog einen Schmollmund. »Ja, echt nett und echt langweilig. Im Bett hat er auch nicht besonders viel drauf. Letztes Mal
bin ich fast dabei eingeschlafen. Was ich jetzt dringend brauche, ist Abwechslung.«
Wir hatten den Ort verlassen und fuhren auf einem asphaltierten Radweg zwischen den Feldern hindurch in Richtung Autobahn.
Wir waren nicht die Einzigen. Vor und hinter uns waren kleinere und größere Gruppen von Leuten unterwegs, zu Fuß oder auf
Fahrrädern. Alle strömten in eine Richtung. Zum Blauen See, einem kleinen Baggerloch im Wald auf der anderen Seite der Autobahn.
Dort fand heute das alljährliche
Rock am See
-Festival statt. Es war der Höhepunkt des Sommers, die letzte Gelegenheit, ausgiebig zu feiern, bevor die Schule und der Lernstress
wieder richtig losgingen. Bevor die Tage kürzer wurden und der Herbst begann.
Dieses Schuljahr würde hammerhart werden. Die letzte Versetzung hatte ich nur knapp geschafft. Ich war in der Fünften schon
einmal sitzen geblieben, eine weitere Ehrenrunde konnte ich mir nicht leisten. Noch etwas, woran ich heute nicht denken wollte.
Als wir über die Autobahnbrücke radelten, wehte der Wind Musik zu uns herüber. Gitarre und Schlagzeug. Die erste Band spielte
bereits. Ich wollte diesen Abend unbedingt genießen. Noch einmal so richtig durchstarten, bevor am Montag der Ernst des Lebens
wieder losging.
Das war zumindest der Plan.
3
»Da seid ihr ja endlich!«
Markus lehnte am Schlagbaum, der den Beginn des Festivalgeländes markierte. Er schnippte seine Zigarette in den Sand und kam
auf uns zu. Er trug
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