Nachtsplitter
Zunge heraus, gehe los, torkelnd. Stolpere über etwas am Boden. Eine Baumwurzel?
Falle hin.
»Jenny!«
Jakob flucht, folgt mir, das Handy immer noch in der Hand, hilft mir beim Aufstehen. Kratzer an meinem Bein. Blut.
»Hast du dir wehgetan?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein.«
Moos, Moos, Moos. Meine Füße in staubigen Turnschuhen. Baumstämme, Zweige.
Stille. Nur unser Atem. Jakob ist direkt hinter mir.
Ich bleibe stehen. Da vorne ist etwas. Hinter den Bäumen wird es heller. Ich biege einen Zweig zur Seite. Eine Wiese.
Silbriges, schwankendes Gras. Ich schwanke auch. Leises Lachen. Ein weißer Arm. Eine verschwommene Gestalt. Langes Nixenhaar.
Jemand saugt scharf die Luft ein. Jakob.
Ich drehe mich um. Mein Gesicht ist schneeweiß, die Augen weit aufgerissen. Wie die eines wilden Tieres, das vom Scheinwerferlicht
eines herannahenden Autos geblendet wird. Ich gebe keinen Ton von mir. Ich renne los, renne und renne, verschmelze mit der
Dunkelheit.
Moos, Moos, Moos. Verwackelter Waldboden. Äste, Wurzeln, ein aufgescheuchtes Kaninchen, das panisch das Weite sucht.
Jakob rennt ebenfalls, steckt das Handy beim Laufen in die Tasche.
Dann: absolute Dunkelheit. Kein Bild mehr, nur noch Ton.
Jakobs keuchender Atem. Seine Stimme: »Jenny! Warte!«
Schluchzen. »Lass mich los!«
»Komm jetzt mit.«
»Nein!«
Schnelle Schritte auf Asphalt, Keuchen. Rauschen. Vorbeifahrende Autos.
Eine leise Stimme, jammernd, vor sich hin brabbelnd, unverständlich. Meine Stimme?
»Jenny, was soll das? Bitte beruhige dich!«
»Nein! Lass mich in Ruhe!« Das Schluchzen wird lauter. »Du kannst mich mal!«
»Komm da runter, Jenny!« Jakob, panisch.
Undefinierbare Geräusche. Ein Kampf? Reißender Stoff, Keuchen, ein Schlag, Stöhnen . . .
»Lass mich!«
»Nein!«
»Scheiße, Scheiße, SCHEISSE! Ihr könnt mich alle mal! Hört ihr, Pia und Markus? IHR KÖNNT MICH MAL!«
»Ich lass dich jetzt los, okay?«
Kurze Pause. Dann wieder meine Stimme, diesmal klar
und deutlich: »Euren Scheiß-Wein könnt ihr in Zukunft alleine trinken.«
»Jenny, nicht!«
Lautes Klirren, ein Krachen, Hupen.
Und dann:
Stille.
5
Ich starre auf das dunkle Display. Es gibt nichts mehr preis, es hat alles verraten. Wollte ich das wirklich wissen? Vielleicht
hat Jakob recht gehabt. Egal. Zu spät.
Ich blicke auf. Mein Gesicht ist feucht. Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe zu weinen.
»Ich habe die Flasche geworfen?«, flüstere ich.
Jakob sitzt mir gegenüber auf seinem Bett. Er sieht mich an. Seine Augen sind fast schwarz.
»Ja. Du hast die Flasche geworfen.«
Ich habe keine Worte für das, was ich fühle. Die Wahrheit ist unerträglich. Sie frisst sich unbarmherzig in meinen Kopf, damit
ich sie nie, nie wieder vergesse.
Ich habe die Flasche geworfen.
Ich bin schuld an dem Unfall.
Ich bin schuld daran, dass Lena keine Mutter mehr hat.
ICH BIN SCHULD!
Jakob unterbricht die Stille. »Du hast es nicht mit Absicht getan, Jenny. Du warst betrunken. Und total fertig wegen Markus
und Pia. Du warst verzweifelt, wütend, durcheinander. Du wärst fast von der Brücke gesprungen! Und dann hast du dir einfach
die Weinflasche geschnappt . . . Ich hätte dich aufhalten müssen. Wenn ich etwas schneller gewesen wäre . . .«
»Was ist dann passiert?«, frage ich. Ich bin selbst erstaunt, dass meine Stimme so normal klingt. Als würde mich das alles
nichts angehen.
»Ich hab dich von der Brücke gezerrt. Wir mussten schnell verschwinden. Auf der Autobahn hatten bereits mehrere Fahrer angehalten,
um sich um die Verletzten zu kümmern. Ich bin mit dir zu meinem Wagen. Du musstest kotzen. Dir ging's echt dreckig. Und dann
bist du einfach umgekippt. Ich hab dich auf den Vordersitz gelegt und zugedeckt. Du hast geschlafen wie eine Tote. Ich bin
noch mal zurück, um herauszufinden, was passiert ist. Die Polizei war schon da. Und ein Krankenwagen. Es sah nicht gut aus.«
Jakob schweigt, fährt sich durch die Haare.
»Und dann?«
»Als ich zurückkam, warst du weg. Ich hab mir furchtbare Sorgen gemacht, bin überall herumgerannt und hab dich gesucht. Ich
dachte, du hast dir vielleicht was angetan oder so. Aber dann hat mir irgendwer erzählt, du seiest mit Pia abgehauen. Amnächsten Tag bin ich um euer Haus gekurvt und hab dich beobachtet, um herauszufinden, ob du okay bist. Dass du dich an nichts
mehr erinnern konntest, hab ich als Wink des Schicksals gesehen. Ich dachte, vielleicht ist es besser, wenn du nie
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