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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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gefaßter, und sie hatte sich die wirren Strähnen aus dem Gesicht gekämmt. Sie ließ sich das Buch geben und betrachtete das Bild.
    »Amadeu.«
    Aus ihrem Mund klang der Name ganz anders als aus dem Mund der anderen. Als sei es ein ganz anderer Name, der unmöglich demselben Mann gehören konnte.
    »Er war so weiß und still, so fürchterlich weiß und still. Vielleicht war es, weil er so sehr Sprache gewesen war. Ich konnte, ich wollte es nicht glauben: daß nie mehr Worte von ihm kommen würden. Nie mehr. Das Blut aus der geplatzten Ader hatte sie weggeschwemmt, die Worte. Alle Worte. Ein blutiger Dammbruch von vernichtender Wucht. Als Krankenschwester habe ich viele Tote gesehen. Doch nie ist mir der Tod so grausam vorgekommen. Als etwas, das einfach nicht hätte eintreten dürfen . Als etwas, das schlechterdings unerträglich war. Unerträglich .«
    Trotz des Verkehrslärms vor dem Fenster füllte Stille den Raum.
    »Ich sehe ihn vor mir, wie er zu mir kommt, den Krankenhausbericht in der Hand, es war ein gelblicher Umschlag. Er war wegen stechender Kopfschmerzen und Schwindel hingegangen. Er hatte Angst, es könnte ein Tumor sein. Angiographie, Kontrastmittel. Nichts. Nur ein Aneurysma. ›Damit können Sie hundert werden!‹ hatte der Neurologe gesagt. Aber Amadeu war leichenblaß. Es kann jeden Moment platzen, jeden Moment, wie soll ich mit dieser Zeitbombe im Gehirn leben , sagte er.«
    Er habe die Gehirnkarte von der Wand genommen, sagte Gregorius.
    »Ich weiß, das war das erste, was er tat. Was es bedeutete, kann man nur ermessen, wenn man weiß, was für eine grenzenlose Bewunderung er für das menschliche Gehirn und seine rätselhaften Leistungen hatte. Ein Gottesbeweis , sagte er, es ist ein Gottesbeweis. Nur daß es Gott nicht gibt. Und jetzt begann für ihn ein Leben, in dem er jedem Gedanken ans Gehirn aus dem Weg ging. Jedes Krankheitsbild, das nur im entferntesten etwas mit dem Gehirn zu tun haben konnte, überwies er sofort an die Spezialisten.«
    Gregorius sah das große Buch über das Gehirn vor sich, das in Prados Zimmer oben auf dem Bücherstapel lag. O cérebro, sempre o cérebro , hörte er Adriana sagen. Porquê não disseste nada?
    »Niemand außer mir wußte von der Sache. Auch Adriana nicht. Nicht einmal Jorge.«
    Der Stolz war kaum hörbar, aber er war da.
    »Wir haben später selten darüber gesprochen, und nie lange. Es gab nicht viel zu sagen. Aber die Drohung einer blutigen Überschwemmung in seinem Kopf lag als ein Schatten über den letzten sieben Jahren seines Lebens. Es gab Augenblicke, da wünschte er, es würde endlich geschehen. Um von der Angst erlöst zu werden.«
    Sie sah Gregorius an. »Kommen Sie.« Sie ging ihm voran in die Küche. Aus dem obersten Fach eines Schranks nahm sie eine große, flache Schachtel aus lackiertem Holz, der Deckel mit Intarsien verziert. Sie setzten sich an den Küchentisch.
    »Einige seiner Aufzeichnungen entstanden bei mir in der Küche. Es war eine andere Küche, aber es war dieser Tisch hier. Die Dinge, die ich hier schreibe, sind die gefährlichsten , sagte er. Darüber reden wollte er nicht. Schreiben ist wortlos , sagte er. Es kam vor, daß er die ganze Nacht hier saß und danach ohne Schlaf in die Praxis ging. Er trieb Raubbau mit seiner Gesundheit. Adriana haßte es. Sie haßte alles, was mit mir zu tun hatte. ›Danke‹, sagte er, wenn er ging, ›es ist bei dir wie in einem stillen, geschützten Hafen.‹ Ich habe die Blätter immer in der Küche aufbewahrt. Da gehören sie hin.«
    Sie öffnete den ziselierten Verschluß der Schachtel und nahm die drei obersten Bogen heraus. Nachdem sie einige Zeilen für sich gelesen hatte, schob sie die Papiere zu Gregorius.
    Er las. Immer wenn er etwas nicht verstand, sah er sie an, und dann übersetzte sie.
     
    MEMENTO MORI . Dunkle Klostermauern, gesenkter Blick, verschneiter Friedhof. Muß es das sein?
    Sich darauf besinnen, was man eigentlich möchte. Das Bewußtsein der begrenzten, ablaufenden Zeit als Kraftquelle, um sich eigenen Gewohnheiten und Erwartungen, vor allem aber den Erwartungen und Drohungen der anderen, entgegenzustemmen. Als etwas also, das die Zukunft öffnet und nicht verschließt . So verstanden ist das Memento eine Gefahr für die Mächtigen, die Unterdrücker, die es so einzurichten suchen, daß die Unterdrückten mit ihren Wünschen kein Gehör finden, nicht einmal vor sich selbst.
    »Warum soll ich daran denken, das Ende ist das Ende, es kommt, wann es kommt, warum

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