Nachtzug
war völlig bleich und hatte blau angelaufene Lippen. Er lehnte am Baum, um sich abzustützen.
Abraham bewegte sich vorsichtig über die kompakte Eisdecke und benutzte seine Waffe, um das Gleichgewicht zu halten. Mit seinem dicken Mantel, seiner Fellmütze und den gefütterten Handschuhen sah er aus wie ein Bär, der sich mühsam auf seinen Hinterbeinen vorwärts schleppt. »Ich bin ein Freund. Nicht schießen!«
Nach einem Augenblick der Stille meldete sich einer der Männer: »Dann leg deine Waffe nieder!«
Abraham hatte sich ein Pistolenhalfter um die Hüfte geschlungen. Er überlegte noch einmal kurz, folgte dann aber ihrer Aufforderung und löste, mitten auf dem gefrorenen Fluß stehend, den Gürtel und ließ ihn langsam aufs Eis gleiten. »Und jetzt komm zu uns!« befahl einer der Soldaten, der kniete. Abraham kam dem Befehl nach und streckte weiter seine Hände aus, um das Gleichgewicht zu halten.
{217} Als er sich ihnen bis auf ein paar Meter genähert hatte und sich nun bemühte, die Uferböschung hinaufzusteigen, verließ der Mann, der gesprochen hatte, endlich seine Deckung. Er musterte Abraham von oben bis unten und senkte dann sein Gewehr. »Wer bist du?« fragte er mit nordpolnischem Akzent.
»Ich heiße Abraham Vogel.«
Der Mann machte keinen Hehl aus seiner Überraschung. »Ein Jude? Mit einem Gewehr?«
Abraham wandte sich nun von ihm ab, und sein Blick richtete sich auf den anderen Mann, der sich mit geschlossenen Augen am Baum abstützte. »Dein Freund sieht nicht gut aus.«
»Ja, das stimmt. Stan und ich haben lange nichts mehr gegessen.«
»Woher kommt ihr?«
Der Soldat musterte den jungen Juden aufmerksam. »Das würde ich dich gerne fragen. Aber ich denke, du wirst dich irgendwo verstecken.«
»Wir haben ein Lager nicht weit von hier.«
»Partisanen?«
»Wir können euch Essen und einen warmen Platz zum Schlafen bieten.«
Der Soldat starrte noch kurz in das zarte, fast schöne Gesicht Abrahams, dann hängte er sich das Gewehr wieder über die Schulter und streckte eine Hand vor. »Każik Skowron, Leutnant der polnischen Armee.«
Sie schüttelten sich die Hände.
Stanisław Poniatowski, der sich bemühte, aufzustehen, hauchte schwach: »Wir sind froh, dich zu treffen, Abraham Vogel. Du bist die Antwort auf unsere Gebete.«
Każik grinste und trat zu seinem Kameraden, um ihn zu stützen. »Gott hat wirklich Sinn für Humor. Zwei Katholiken bitten ihn um Hilfe, und er schickt einen Juden!«
Als Abraham sie über den gefrorenen Fluß zurückführte, blieb er kurz stehen, um seine Waffe wieder an sich zu nehmen, und brachte sie dann zur Höhle. Während er Stanisław durch die enge Öffnung half, riß Każik vor Erstaunen die Augen weit auf. »Aber …, wir sind doch vor einiger Zeit an dieser Klippe vorbeigekommen! Und da gab es noch keine Öffnung! Ich weiß noch, daß wir über den Fluß gekom {218} men sind und …« Er verstummte, als er sah, wie ihn plötzlich die Bewohner der Höhle durch die Glut des Feuers anstarrten. Dann fiel sein Blick auf Esther Brombergs Topf mit gekochtem Sauerkraut, und er leckte sich die Lippen.
»Kommt!« wurden sie von Moisze empfangen, der sogleich aufsprang. »Setzt euch und eßt!«
Brunek Matuszek eilte ihnen entgegen, um Stanisław zu helfen, während Esther sich sofort daranmachte, das Essen zu servieren. Durch das betörende Aroma von Kümmel, Dill und Sauerkraut kehrten die Lebensgeister in die beiden Soldaten zurück, und sie nahmen Platz, nachdem sie von dem Eintopf gekostet hatten.
»Oh, Kartoffeln«, murmelte Stanisław, der alles so gierig verschlang, daß er sich fast verschluckte. »Wann haben wir das letztemal Kartoffeln …?«
Während die Neuankömmlinge aßen, erklärte Abraham den anderen, wie er sie gefunden hatte und um wen es sich handelte.
»Wir kämpften nordöstlich von hier«, sagte Każik und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. »Wir bildeten noch ein kleines Widerstandsnest nach der Besetzung. Wir haben die ganze Zeit gekämpft, aber am Ende hat man uns aufgerieben. Nur Stan und ich konnten fliehen; außerdem war da noch ein anderer Kamerad, aber wir mußten ihn nicht weit von hier zurücklassen, weil er verwundet war. Wir haben ihm eine provisorische Unterkunft gebaut und uns dann auf den Weg gemacht in der Hoffnung, Hilfe zu finden. Man sagte uns, daß es hier in der Nähe Bauernhöfe gibt.«
»Ja, die gibt es«, entgegnete Brunek, »aber es wäre nicht ratsam gewesen, sich ihnen zu nähern. Die
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