Nachtzug
mehr zu impfen, wenn er in einer Woche zurückkommen würde, um Blutproben zu entnehmen.
»Sergej, ich verstehe einfach nicht, was da los ist, wirklich«, sagte Rudolf Bruckner plötzlich.
»Ach, sprichst du wieder von dieser Sache?« Der muskulöse Russe warf die letzten Gewürze in einen Topf, in dem er Kohl kochte und wischte sich den Schweiß und Dampf von der Stirn. »Vielleicht bildest du dir ja alles nur ein.«
»Nein, das tue ich nicht!« rief Bruckner aus dem Wohnzimmer. Er saß in einem bequemen Sessel vor dem Feuer, seine Füße auf einem Schemel und ein Glas Wodka in der Hand. Er hatte sein schmales Gesicht skeptisch verzogen. Seit Tagen schon ließ ihm dieses Problem keine Ruhe. »Ich habe dir doch gesagt, daß Gläser aus dem Labor verschwunden sind.«
»Wer sollte denn daran Interesse haben?«
»Das weiß ich nicht, aber die Ärzte haben wieder lange im Labor gearbeitet. Wirklich sehr lange. Doch wenn ich später nachsehe, finde ich keinen Hinweis auf das, was sie tun.«
»Immerhin sind es ja Ärzte, Rudolf.«
»Natürlich, aber für diese Art von Arbeit haben sie doch einen Labo {215} ranten eingestellt. Wenn so was einmal vorkommt, könnte ich es vielleicht noch verstehen, aber so oft! Ich sage dir, Sergej: Irgend etwas ist faul an der Sache.«
Sergej legte den Deckel wieder auf den Topf und trocknete sich die Hände ab. Dann ging er zur Tür und meinte: »Du machst dir zu viele Sorgen, du nimmst deine Arbeit zu ernst. Wieso kannst du sie nicht einfach mal vergessen?«
»So einfach ist das nicht, Sergej. Wirklich nicht.«
Nein, wirklich nicht, dachte Bruckner, als Sergej in die Küche zurückging, um das Rindfleisch in Scheiben zu schneiden. Du weißt ja auch nicht, daß ich Dieter Schmidt Berichte abliefern muß und ihm nicht einfach diese Geschichte von den paar gestohlenen Teströhrchen und Bechergläsern auftischen kann. Er würde sich ja regelrecht über mich lustig machen. Was er sowieso schon tut.
Bruckner führte das Glas an die Lippen und warf den Kopf in den Nacken. Er spürte, wie ihm der Wodka die Kehle hinunterrann. Dieter Schmidt ließ niemals eine Gelegenheit aus, Bruckner daran zu erinnern, daß er in seinen anderthalb Jahren Untergrundarbeit in Sofia nicht einen einzigen Hinweis gegeben hatte, der zu den geheimen Widerstandsgruppen in Sofia geführt hätte. Und deshalb hatte Schmidt nur Verachtung für ihn übrig. Und aus diesem Grund würde Bruckner auch nicht das gestohlene Labormaterial erwähnen. Vielleicht handelte es sich um einen Anhaltspunkt, vielleicht aber auch nicht. Aber wenn wirklich etwas dahintersteckte und er mehr als einen unbedeutenden Benzindiebstahl aufdecken konnte, dann war es die Sache wert, daß man sie weiter verfolgte. Er würde es Schmidt schon zeigen. »Ich denke, ich werde mich mal etwas genauer umschauen«, sprach er laut, damit Sergej ihn hörte.
Endlich trafen die Ergebnisse der ersten Gruppe von Patienten aus dem Zentrallabor von Warschau ein.
Alle waren positiv.
Jeder, der eine Injektion erhalten hatte, war dabei, es gab nicht einen einzigen Ausfall.
Eine Woche darauf kehrte Szukalski wieder in die umliegenden Gebiete zurück.
{216} 17
Abraham Vogel stand am Ufer der Weichsel, einige hundert Meter stromabwärts vom Höhleneingang, als er über das zugefrorene Flußbett zwei Gestalten aus den Wäldern heraustreten sah. Auch aus der Ferne erkannte er, daß sie zerlumpte braune Uniformen der polnischen Armee trugen und daß die beiden Männer, wer immer sie auch sein mochten, sich in Schwierigkeiten befanden. Reglos beobachtete er, wie sie sich, einander abstützend, über das Flußufer schleppten.
Die Schneeschauer nahmen mit der Abenddämmerung allmählich an Heftigkeit zu und ließen den jungen Juden unter seinem schweren Mantel und seiner Lammfellmütze frösteln. Die zwei Männer, die auf ihn zukamen, waren bei weitem nicht so warm angezogen wie er. Beiden fehlte eine Kopfbedeckung, und nur einer trug Handschuhe. Er hob einen Arm und rief ihnen zu: »He, ihr da!«
Die zwei Soldaten versteckten sich sofort hinter einem Baum, machten ihre Gewehre bereit und zielten auf die andere Flußseite.
»Nicht schießen!« rief Abraham, der vorsichtig über die steile Böschung zum Fluß abstieg. Durch den Schneevorhang konnte er auch erkennen, daß die beiden Männer Schwierigkeiten hatten, ihr Gewehr hochzuhalten. »Ich bin ein Freund!«
Die Soldaten blieben still, duckten sich und hielten ihre Gewehre im Anschlag. Einer von ihnen
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