Nachtzug
Beutel Granaten in der Hand.
»Ich glaube nicht, daß Każik und Stanisław, oder wie auch immer sie in Wirklichkeit hießen, je von unserem geheimen Waffenversteck erfahren haben.«
»Sie haben nur das gesehen, was wir bei dem Angriff auf das Depot verwenden wollten. Andernfalls hätten Schmidts Leute alles mitgenommen.« Leokadja streckte die Hand aus und faßte ihn am Arm.
»Was werden wir jetzt tun?«
Er hielt Abraham die Handgranaten hin, der sie wortlos entgegen {256} nahm. »Wir werden versuchen, sie einzuholen«, erklärte er mit ausdrucksloser Stimme.
Es hatte wieder angefangen zu schneien. Dichte Flocken rieselten sanft auf die weiße Winterlandschaft. Doch vermochte dieses Bild des Friedens den drei jungen Leuten, die in die eisige Nacht hinausmarschierten, keinen Trost zu spenden. Sie spürten nicht die schneidend kalte Luft und die Schneeverwehungen, in denen sie stellenweise bis über die Knie versanken, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war auf einen Pfad gerichtet, der von der Höhle wegführte, einen Trampelpfad, der von zweiundfünfzig nackten Fußpaaren und zahllosen Stiefelabdrücken festgetreten worden war. Hin und wieder sah man auf dem Weg frische Blutspuren.
Schließlich mündete der Pfad in eine schmale Landstraße, wo sich in Schneematsch und Neuschnee frische Spuren von Lkw-Reifen eingegraben hatten.
»Was jetzt?« flüsterte Leokadja.
David blickte zu ihr auf. Ein seltsames Funkeln lag in seinen Augen, das sie nie zuvor bei ihm bemerkt hatte, und seine Stimme klang wie die eines Fremden, als er sagte: »Ihr zwei wartet hier. Ich komme gleich zurück.«
Bevor sie ihm noch weitere Fragen stellen konnten, war er schon auf und davon. Er rannte durch den knirschenden Schnee in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ungeachtet der Gefahr, daß man ihn leicht sehen konnte, hastete er über weite Felder und tauchte schließlich in den Wald ein, wo er sich mit ausgestreckten Armen einen Weg durchs Unterholz bahnte. Gleich darauf stieß er völlig außer Atem auf die Leichen von Każik und Stanisław. David eilte an ihnen vorbei, schwang sich auf das Motorrad und ließ den Motor an, dessen lautes Aufheulen die Stille der Nacht zerriß.
Zwanzig Minuten später war er zurück auf der Landstraße und fand Leokadja und Abraham noch an derselben Stelle, wo er sie verlassen hatte.
»Steigt auf!« befahl er. »Vielleicht können wir sie noch retten! Wenn wir die Laster einholen können …«
David gab Gas und jagte die Straße hinunter, noch bevor seine beiden Freunde richtig Platz genommen hatten. Leokadja, die ihre Arme fest um ihn geschlungen hatte, saß hinter ihm und preßte ihr windge {257} peitschtes Gesicht gegen seinen Rücken. Abraham kauerte mit den Granaten im Beiwagen und hielt sich krampfhaft am Gehäuse fest.
David brauste mit Vollgas die holprige Straße hinunter, die Augen unverwandt auf die Reifenspuren geheftet.
Als sie den Stadtrand von Sofia erreichten, zeigten sich am östlichen Himmel bereits die ersten grauen Streifen der herannahenden Morgendämmerung. David stellte den Motor ab und ließ die Maschine in ein Wäldchen unweit eines dunklen Lagerhauses rollen. Dann stieg er leise ab, bedeutete seinen Kameraden, ihm mit ihren Gewehren zu folgen, und verschwand zwischen den Bäumen.
Lautlos stahlen sich die drei durch die menschenleeren Straßen. Sie huschten im Zickzack von einer Toreinfahrt zur nächsten und blieben immer wieder stehen, um zu lauschen. Ihr Ziel war der Marktplatz. Sie vermuteten, daß die Laster zum Gestapo-Hauptquartier fuhren, denn dort wurden Gefangene gewöhnlich verhört. Wenn sie die Lastwagen noch beim Abladen erreichen könnten, wäre es vielleicht möglich, einen Überraschungsangriff durchzuführen und einigen ihrer Kameraden in der allgemeinen Verwirrung zur Flucht zu verhelfen. Doch während sie an der Mauer von Sankt Ambroż entlangschlichen, wurden David und seine Gefährten plötzlich durch Maschinenpistolenfeuer aufgeschreckt, dem entsetzte Todesschreie folgten.
Im Schatten der Kirche wie erstarrt, blickten die drei mit Grauen auf die Szene vor ihnen.
In der Mitte des Marktplatzes, zwischen Bänken und Gehwegen und gefrorenen Springbrunnen, lagen, auf einem Haufen übereinander, die nackten, blutigen Leichen ihrer Landsleute. Auf der anderen Seite des Weges standen Soldaten in einer Reihe. Sie senkten ihre Gewehre, während Dieter Schmidt aufgeplustert vor ihnen hin- und herstolzierte.
David, Abraham und Leokadja hörten seine
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