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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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waren.
    Die beiden Wachen wurden von Abraham in Schach gehalten. David bedeutete Leokadja, weitere Handgranaten zu werfen, um die hinteren Soldaten abzulenken, während er die Waggontüren öffnete.
    Die verzweifelten Schreie aus dem Innern der Waggons ließen keinen Zweifel daran, daß es sich bei der Ladung um Menschen handelte. {260} Eilig rannte David von Waggon zu Waggon, schlug mit dem Kolben seiner Maschinenpistole gegen die Riegel und stieß die Türen auf.
    »Los!« brüllte er im Vorbeirennen. »Kommt heraus! Folgt mir!« David schwenkte seine Waffe über dem Kopf. »Kommt heraus! Ihr könnt euch retten!«
    Er gab Leokadja zu verstehen, daß sie weitermachen solle, doch sie bedeutete ihm, daß ihr Vorrat an Granaten zu Ende sei.
    David öffnete zwei weitere Waggons und warf dann einen raschen Blick über die Schulter. Was er sah, ließ ihn vor Schrecken erstarren.
    Niemand hatte den Zug verlassen.
    Er sah sie dort drinnen, zusammengekauert, so weit weg von der offenen Tür wie nur möglich, zerlumpte, verängstigte Menschen, die ihn mit bleichen, ausdruckslosen Gesichtern anstarrten.
    »Kommt heraus!« schrie er abermals. »Kommt heraus, und rettet euer Leben! Die Deutschen werden euch hinrichten! Sie haben euch belogen! Ihr fahrt in den sicheren Tod! Wir haben Waffen für euch! Ihr könnt kämpfen! Ihr könnt frei sein!«
    Doch sie rührten sich nicht, gaben keinen Laut von sich, und David Ryż, vor Verwirrung und Verwunderung wie gelähmt, starrte entgeistert in die hohlwangigen Gesichter, die mit vor Angst geweiteten Augen auf ihn hinabschauten.
    Plötzlich vernahm er einen Schrei hinter sich. Er fuhr herum und sah Leokadja in der Gewalt eines SS -Offiziers, der ihr eine Pistole an die Schläfe hielt. Langsam kam der Offizier auf David zu und schob dabei die junge Frau wie einen Schutzschild vor sich her. »Waffe weg, junger Mann!« befahl der Deutsche ruhig. »Und du, da drüben«, sagte er zu Abraham, »wirf dein Gewehr auch weg.«
    Unfähig, sich zu bewegen, blickte David erneut zu den Menschen auf, die in den Güterwagen kauerten. Die Stimme des SS -Mannes hallte in der einsamen Stille des Waldes wider. Und da begriff der junge Jude endlich, was geschah.
    Wieder ertönte die geduldige, aber unnachgiebige Stimme des SS-Offiziers: »Legt eure Waffen nieder, wir wollen euch nicht töten. Wir sind keine Barbaren.« Als er auf gleicher Höhe mit dem jungen Mann angelangt war, konnte David das Entsetzen in Leokadjas Augen erkennen.
    {261} »Diese Leute«, fuhr der Deutsche fort, »drohten im Warschauer Getto Hungers zu sterben. Wir haben ihnen Unterkunft, Verpflegung und nützliche Arbeit versprochen. Warum sollten sie aussteigen wollen?«
    Hilflos ließ David die Arme sinken. Von ferne nahm er undeutlich wahr, wie der Baumstamm von den Gleisen gerollt wurde. Und über ihm, schweigend und reglos, die geisterhaften Gesichter der für Auschwitz bestimmten Juden, die teilnahmslos auf ihn hinabstarrten.
    »David«, flehte Leokadja, »du kannst dir den Weg freischießen! Kümmre dich nicht um mich! Rette dich!«
    Der junge Jude blickte weiter unverwandt auf die Menschen im Güterwagen, die sich so weit sie konnten von ihm zurückdrängten. Und er hörte seine eigene Stimme sagen: »Versteht ihr denn nicht …«
    »Los jetzt«, fiel ihm der SS -Offizier ungeduldig ins Wort. »Wir haben bereits Verspätung. Wir wollen euch nicht töten. Laßt jetzt einfach die Waffen fallen.«
    Andere Soldaten kamen nun durch die Bäume auf sie zu. Sie hielten ihre Gewehre auf David und Abraham gerichtet. Einer von ihnen rief:
    »Warum wollt ihr an diesem gottverlassenen Ort euer Leben lassen? Ihr könnt doch mit uns kommen und dabei helfen, eine neue Welt zu erschaffen.«
    David stand wie betäubt. Die Stimme des Deutschen schien aus weiter Ferne zu kommen: »Warum wollt ihr an diesem gottverlassenen Ort euer Leben lassen …«
    Dann dachte er an Brunek Matuszek und Moisze Bromberg und an den unwürdigen Tod, den sie gefunden hatten. Er dachte daran, was er durch sein Fernglas im Lager von Auschwitz gesehen hatte. Er dachte an Tapferkeit und Heldenmut, und für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, sich den Weg aus dieser Klemme freizuschießen und im Glanz von Ruhm und Heldentum zu sterben.
    Doch dann sah er wieder in die ausgemergelten, mitleiderregenden Gesichter über ihm – die Gesichter seines Volkes – und spürte, wie ihm die Maschinenpistole aus den Händen glitt.
    »Sehr gut«, meinte der Offizier und ließ die

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