Nachtzug
Stimme durch die Stille hallen. »Bringt Dolata und seinen Rat hierher! Sagt ihnen, auf dem Marktplatz warten einige Säuberungsarbeiten auf sie!«
David schaute durch einen Tränenschleier hindurch auf seine Armbanduhr: Sechs Uhr. Der Angriff auf das Waffendepot hätte schon seit einer Stunde vorüber sein sollen. Die Explosion in der Morgendämmerung hätte von den deutschen Munitionsbunkern herrühren {258} sollen, und diese armen, nackten Teufel hätten dem Feind eine herbe Niederlage beibringen sollen. Ohne einander anzusehen und ohne ein Wort zu sprechen, wandten sich die drei von dem grausigen Geschehen ab und schlichen durch die Dunkelheit zurück zum Stadtrand, wo sie das Motorrad bestiegen und in den Wald zurückkehrten.
Drei Tage später war es ein wenig wärmer geworden, und anstelle von Schnee ging nun ein eisiger Nieselregen nieder. Die drei einsamen Partisanen waren damit beschäftigt, die versteckten Waffen, die von den Deutschen nicht entdeckt worden waren, in ein anderes Versteck unter einer kleinen Steinbrücke zu bringen. Sie nahmen auch das wenige in der Höhle zurückgelassene Essen und ein paar Decken mit.
Jede Nacht wechselten sie ihr Versteck, denn aus Angst, daß die Deutschen sie finden könnten, wagten sie nicht, an einem Ort zu bleiben. Und obgleich kein Wort darüber gefallen war, wußten sie alle drei, für wen die versteckten Waffen bestimmt waren. Ihr ganzes Sinnen und Trachten war nur auf ein einziges Ziel gerichtet: Sie würden eine neue Truppe aufstellen und Rache nehmen.
Eine Nacht vor dem geplanten Angriff kauerten sie in der spärlichen Wärme eines Schuppens und hörten David zu, der ihnen die letzten Anweisungen gab.
»Wenn alles gutgeht, werden wir eine starke Truppe zusammenbekommen, das Vorratslager der Deutschen überfallen und uns dann nach Norden in die Berge zurückziehen. Eine Bergfestung müssen wir haben. Es gibt da eine kleine Brücke, die über eine Schlucht in den Hügeln führt. Ich habe oft Züge darüberfahren sehen. Wenn wir vor der Brücke einen Baum über die Schienen fällen, dann müssen sie den Zug anhalten und aussteigen, um den Baum zu entfernen. Diese Züge werden von nur etwa zehn Soldaten bewacht. Zwei davon sitzen gewöhnlich vorne beim Lokomotivführer und die übrigen im letzten Wagen. Wenn der Zug bremst, wird Leokadja eine Handgranate auf den hinteren Wagen schleudern. Das wird dir, Abraham, und mir, Gelegenheit geben, ins Führerhaus zu springen. Du wirst sie in Schach halten, während ich die Güterwagen öffne und die Gefangenen befreie.«
»Kann es wirklich so einfach sein?« fragte Leokadja
{259} »Ja, aber nur, wenn wir die Wachen schnell genug überwältigen. Wir werden den Überraschungseffekt auf unserer Seite haben. Danach können uns die Leute aus den Waggons helfen. Wir werden in der Nähe genug Waffen deponieren, um einige der Leute damit auszurüsten, für den Fall, daß wir uns den Rückzug erkämpfen müssen.«
Am nächsten Tag waren die Wolken verschwunden, und ein herrlicher Frühlingsmorgen schickte seine warmen Strahlen über die Schneedecke, die langsam abschmolz.
David, Leokadja und Abraham warteten in ihren Stellungen nahe den Eisenbahnschienen. In der Ferne sah man schon die Rauchschwaden und die dunklen Umrisse einer gewaltigen Lok. »Woher wollen wir wissen, daß dieser Zug nicht Vieh oder Waren anstatt Menschen transportiert?« fragte Abraham.
»Ich werde es erkennen«, erwiderte David düster. »Sei unbesorgt …«
Beim Anblick des mächtigen Baums, der über den Schienen lag, setzte der Lokführer die Geschwindigkeit herab und brachte den Zug zum Stehen. Aber zu Davids Entsetzen war es viel weiter hinten, als sie geplant hatten.
»Verdammt!« zischte er. »Jetzt müssen wir uns aufteilen. Ich werde durch den Wald zurückrennen und versuchen, auf den Kohlewagen zu klettern. Gott, hoffentlich kann Leokadja den hinteren Wagen noch mit der Handgranate treffen.«
Während David ungesehen am Zug entlangrannte, schleuderte Leokadja die erste Handgranate auf zwei Wachen, die ausgestiegen waren, um nachzusehen, was los war. Die Granate traf die Vorderräder des Wagens und brachte ihn zum Entgleisen. Sie verletzte jedoch keinen der Soldaten, die nun auf der anderen Seite hinauskletterten und hastig in Deckung gingen. David gelang es, den Lokführer und den Heizer gefangenzunehmen, während Abraham die beiden vorderen Wachen entwaffnete, die von der Explosion im hinteren Teil des Zuges überrascht worden
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