Nachtzug
fort: »Jan, du bist ein Mann, dessen Meinung wir hochachten. Fast jeder in Sofia respektiert dich und schätzt dein Urteil. Deshalb hat Edmund dich heute abend zu unserem Treffen gebeten. Jetzt hast du gehört, was er uns sagen wollte, und hast unsere Ansichten dazu vernommen. Wir wollen jetzt nur noch wissen, was du darüber denkst.«
Szukalskis Augen waren voller Trauer, als er aufblickte und seine Kameraden über den Couchtisch hinweg ansah. Seine Stimme klang schwermütig. »Ludwig, ich war ebenso betroffen wie ihr, als ich heute morgen erfuhr, was Dieter Schmidt während der Nacht auf dem Platz angerichtet hatte. Ich habe die Leichen gesehen, Ludwig. Und ich kann euch versichern, meine Freunde, als Arzt bin ich mit dem Tod bestens vertraut. Ich habe ihn in allen Erscheinungsformen erlebt, vom schönen, friedvollen Entschlummern bis zu der Obszönität, mit der diese zweiundfünfzig Menschen von Schmidt hingerichtet wurden. Noch nie hat mich der Anblick des Todes so tief erschüttert wie heute morgen.«
»Dann wirst du sicher auch kämpfen wollen«, warf Feliks Broninski ein.
»Laß Jan ausreden«, meinte Jerzy Krasinski und füllte die Gläser nach.
Mit wohlüberlegten Worten fuhr Szukalski fort: »Ja, Feliks, ich will kämpfen. Aber ich muß euch sagen, daß ich die Mittel, mit denen ihr vorgehen wollt, nicht gutheiße.«
»Dann willst du also doch nicht kämpfen«, versetzte Ludwig ärgerlich.
»Ich will kämpfen, meine Freunde, und eigentlich tue ich jetzt schon nichts anderes. Ich führe bereits seit mehreren Monaten einen Kampf gegen die Nazis.«
Die anderen blickten erstaunt auf.
Jan erhob sich von seinem Stuhl, ging hinüber zur Feuerstelle und {267} lehnte sich gegen den Kaminsims. Über dem Kamin stand eine Alabasterstatue der Heiligen Jungfrau, auf die Jan nun beim Sprechen seinen Blick richtete. »In dem Augenblick, als ich die Leichen auf dem Marktplatz sah, wußte ich, daß ich mein Geheimnis früher oder später preisgeben müßte. Das wurde mir klar, als ich die Gesichter der Bürger von Sofia sah. Die ohnmächtige Wut, die ich darin las, und das plötzliche Verlangen zu töten. Durch sein demütigendes Regiment hat Dieter Schmidt bei vielen Männern dieser Stadt das Bedürfnis nach Vergeltung hervorgerufen, bei Männern, die wie ihr versuchten, mit den deutschen Besatzern in Frieden nebeneinander zu leben. Aus diesem Grund habe ich den Entschluß gefaßt, euch vier in mein Geheimnis einzuweihen.«
»Geheimnis?« hörte er Dolata sagen.
Der Arzt wandte sich zu ihnen um. »Ich hatte gehofft, es niemals enthüllen zu müssen, denn je weniger davon wissen, desto besser ist es gehütet. Doch jetzt haben sich die Verhältnisse in Sofia geändert, und ich kann nicht zulassen, daß sich Nazis und Zivilisten offen bekriegen.«
»Warum nicht, Jan? Was ist das für ein Geheimnis?«
Bevor der Doktor antworten konnte, fiel ihm Feliks Broninski ins Wort. »Wir haben keine andere Wahl, Jan! Es ist höchste Zeit, daß wir anfangen, uns zu wehren! Ich für meinen Teil werde mich von Schmidt nicht mehr länger wie Vieh behandeln lassen! Ich habe auch meinen Stolz! Um Himmels willen, Jan, in dieser Gruppe waren Frauen! Frauen, die Gewehre trugen und ihr Leben aufs Spiel setzten, um den Nazis die Hölle heiß zu machen, während ich friedlich in meinem Bett schlief! Was glaubst du, wie ich mich jetzt fühle?«
Szukalskis Stimme blieb ruhig. »Gewalt ist nicht der richtige Weg, Feliks. Gewalt erzeugt nur noch mehr Gewalt. Du siehst ja selbst, wie es diesen armen Menschen ergangen ist. All ihre Heldentaten, ihre Sabotageakte und Überraschungsangriffe, was haben sie ihnen eingebracht?«
»Jan«, sagte Edmund Dolata ruhig, »wir wollen Rache. Daß wir unser Leben dabei riskieren, müssen wir in Kauf nehmen. Es gibt keinen anderen Weg.«
Jan Szukalski lächelte geheimnisvoll. »Doch, meine Freunde, es gibt einen anderen Weg.«
{268} »Was meinst du damit?«
»Ich habe euch doch gesagt, daß ich schon seit mehreren Monaten gegen die Nazis kämpfe und daß ich ein Geheimnis habe. Und in meinem Kampf habe ich kein Blut vergossen; niemand ist dabei zu Tode gekommen. Und es ist ein großangelegter Kampf, der über bloße Störmanöver, wie ihr sie vorschlagt, bei weitem hinausgeht.«
»Und wie sieht dieser Kampf aus?«
Szukalski starrte nachdenklich auf das Glas in seiner Hand, setzte es an die Lippen und stürzte den Inhalt auf einmal hinunter. Dann meinte er schlicht: »Es gibt keine Fleckfieberepidemie
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