Nachtzug
in Sofia.«
Zuerst sagte keiner ein Wort. Dann fragte einer der Männer im Flüsterton: »Was?«
Er sah sie an. »Ihr habt ganz richtig gehört, meine Freunde, es gibt keine Fleckfieberepidemie in Sofia.«
Dolata runzelte die Stirn. »Aber die Quarantäne …«
»Die Quarantäne ist echt, die Krankheit nicht.«
»Ich verstehe nicht«, meinte Jerzy Krasinski verwirrt.
Jan Szukalski trat vom Kamin weg und setzte sich wieder zu den anderen. Während er die Gläser abermals mit Wodka füllte und das seine sofort austrank, begann er in einem leisen, gleichbleibenden Ton zu sprechen: »Meine Stellvertreterin Maria Duszynska und ich haben im letzten Dezember eine Möglichkeit gefunden, in Blutproben den Fleckfiebererreger vorzutäuschen, obwohl er in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. Ich möchte mich hier nicht mit technischen Einzelheiten aufhalten, doch soviel steht fest: Die deutschen Behörden in Warschau sind davon überzeugt, daß hier eine gefährliche Fleckfieberepidemie wütet.«
»Jan«, unterbrach ihn Dolata. »habe ich das richtig verstanden? Du und Dr. Duszynska, ihr habt vorsätzlich eine Fleckfieberepidemie vorgetäuscht? Aber warum denn?«
»Aus genau dem Grund, den du eben schon angesprochen hast. Quarantäne.« Jan wandte sich dem ehemaligen Polizeichef zu. »Und aus dem Grund, den du vorhin genannt hast, Ludwig, um nämlich die Nazis von uns fernzuhalten. Du hast gesagt, wenn es nach dir ginge, könnte die Quarantäne so lange dauern wie der Krieg.«
Ludwig nickte stumm. Sein Gesicht war starr vor Staunen.
{269} »Aber mein Onkel«, widersprach Jerzy, »er kam doch deswegen ins Krankenhaus! Es war auf der Isolierstation!«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wir haben ihm nur gesagt, daß er Fleckfieber hat. In Wirklichkeit hatte er nur eine Magenverstimmung von zu stark gewürztem Essen.«
»Aber es gab doch auch Todesfälle! Und überall in der Stadt werden Zettel zur Gesundheitsvorsorge verteilt. Und meine Frau leidet an Fieber …« Feliks Broninskis Stimme wurde schwächer. »Heilige Maria … das kann doch nicht alles nur ein Possenspiel sein!«
»Genau das ist es aber.«
»Unmöglich!« ereiferte sich Ludwig.
»Wenn ich es dir sage. Wir stehen doch unter Quarantäne, nicht wahr? Und seitdem halten sich weniger Deutsche hier auf, richtig? Wir haben sie davon abgehalten, ihr Munitions- und Ersatzteillager zu benutzen. Wir haben verhindert, daß die Erträge aus unserer Landwirtschaft weggeschafft werden. Und die Truppenzüge halten hier nicht mehr, um zu entladen. Warum beharrst du also darauf, daß es nicht möglich ist?«
Edmund Dolata stand langsam auf und ging zum Fenster. Er zog den schweren Vorhang etwas beiseite und warf einen Blick hinaus in den Regen. Die Straße war dunkel und menschenleer. Das nasse Pflaster wirkte kalt und furchterregend. Er wandte sich um und sah Szukalski eindringlich an. »Und es hat im Zusammenhang mit Fleckfieber keine Todesfälle gegeben?« fragte er.
»Maria und ich haben alle Sterbeurkunden gefälscht.«
Im Zimmer herrschte Totenstille.
»Wer weiß noch davon?« erkundigte sich Dolata.
»Insgesamt nur fünf Leute.«
»Fünf!« platzte Feliks heraus. »Nur fünf Leute haben es geschafft, eine so weitverbreitete Epidemie zu inszenieren? Wie lange wolltet ihr das Spiel denn fortführen?«
»So lange wie möglich. Wir haben nie jemandem davon erzählt, weil wir Angst hatten, daß das Geheimnis herauskommen könnte.«
»Warum hast du es uns jetzt aber doch erzählt, Jan?« fragte Dolata.
»Weil ich euch davon abhalten mußte, eine Dummheit zu begehen. Ich empfand die gleiche Wut wie ihr, als ich die Toten sah. Ich wußte {270} auf Anhieb, was in euch vorging. Und als ihr dann anfingt, über Widerstand und Kämpfen zu reden …«
»Laß uns dir helfen, Jan.«
Szukalski sah Ludwig Rutkowski an und lächelte. »Ich nehme eure Hilfe gerne an, meine Freunde. Die Epidemie hat zu große Ausmaße angenommen, und uns fällt es immer schwerer, sie zu handhaben.«
»Was können wir tun?«
»Ich befürchte, daß viele Bürger von Sofia den Partisanenkampf fortführen wollen. Das dürfen wir nicht zulassen. Dadurch werden sie die Nazis derart in Wut versetzen, daß sie am Ende ganz Sofia dem Erdboden gleichmachen. Eure Aufgabe wird darin bestehen, diesen Leuten – denjenigen, von denen ihr glaubt, daß es notwendig ist – von dem Schwindel zu erzählen. So wird ihnen klar, daß in Sofia ein Kampf im Gange ist und daß sie selbst an der Schlacht
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