Nachtzug
bitte weiter. Ich erzähle dir von dem Zigeuner. Er hat nicht gelogen. Seine Geschichte war in allen Punkten wahr. Meine Gruppe hat damals seine Sippe vernichtet. Als du mir gegenüber erwähntest, daß einer von ihnen entkommen sei und seine Geschichte überall herumerzähltest, da mußte ich doch etwas dagegen tun, oder?«
Maria zwang sich, nach vorne zu schauen, und hielt ihren Blick starr auf den Rücken des Laboranten gerichtet, der vor ihr lief. »Was hast du getan?« hörte sie sich fragen.
»Ich habe in dieser Nacht einen Weg gefunden, ins Krankenhaus zu gelangen – erinnerst du dich, als ich Champagner besorgen wollte? Dann habe ich mich auf die Station geschlichen und den Mann mit seinem Kopfkissen erstickt. Ich habe gut daran getan, zumal er mich wiedererkannte.«
»Ich verstehe …«
Von da an legten sie den Weg zum Krankenhaus schweigend zurück. Dr. Szukalski warf einen Blick auf seine Armbanduhr, als sie das Gebäude durch den Haupteingang betraten. Es war ihm gelungen, den Spaziergang auf fünfzehn Minuten auszudehnen. Das Morphium hatte somit reichlich Zeit gehabt, seine Wirkung zu entfalten.
Er zeigte den Deutschen zunächst das überfüllte Erdgeschoß, wo die gewöhnlichen Patienten lagen. Danach besichtigten sie die Küche und das Labor.
»Ich bewundere aufrichtig Ihren Mut, meine Herren«, meinte Szukalski beiläufig, »daß Sie sich auf einen bloßen Verdacht hin in ein Seuchengebiet wagen. Ich nehme an, daß Sie bereits alle gegen Fleckfieber immun sind?«
Die Ärzte, die in den letzten zehn Minuten auffallend schweigsam gewesen waren, antworteten ihm nacheinander leise: »Ich nicht.«
{298} »Ich auch nicht.«
»Ich auch nicht.«
Er sah sie einen Augenblick mit gespielter Verblüffung an und erwiderte dann: »Ist das wahr? Dann bin ich doppelt beeindruckt, meine Herren. Ich sehe schon ein, daß Sie Ihre Vermutungen haben; aber sich einer möglichen Ansteckung mit Fleckfieber auszusetzen, nur um eine Sache zu beweisen, das erscheint mir doch ein wenig leichtsinnig.«
Alle sahen Max Hartung an, dessen Gesicht unbewegt blieb.
»Nun gut«, fuhr Szukalski fort, »dann will ich Ihnen jetzt die schwersten Fleckfieberfälle zeigen, die wir oben auf der Isolierstation haben. Wegen der Epidemie behandeln wir die meisten Leute zu Hause. Wir haben hier einfach nicht genug Platz und nehmen nur die Patienten auf, die ständige Pflege erfordern. Da es nun aber töricht wäre, wenn Sie sich alle der Ansteckungsgefahr aussetzten, würde ich vorschlagen, daß Sie eine Person bestimmen, die mich auf die Station begleiten soll. Diese kann dann die Blutproben für Ihre Labortests nehmen. Was halten Sie davon?«
»Das ist doch alles Bluff«, versetzte Hartung. »Wir kommen alle mit.«
Jetzt ergriff Müller, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, das Wort: »Es mag Bluff sein, Max, aber ich will nicht alle meine Leute einer möglichen Ansteckung mit Fleckfieber aussetzen, nur um deinen Standpunkt zu beweisen. Zwei werden genügen. Dr. Kraus, würden Sie mich bitte begleiten? Und Sie auch«, er deutete auf einen der Laboranten. »Die übrigen können hierbleiben.«
Als die Gruppe die Treppe zur Isolierstation hinaufstieg, stieß Piotr Wajda, der sie kommen hörte, absichtlich eine Bettpfanne um, deren Inhalt sich über den Fußboden ergoß. Bevor sie oben anlangten, sagte Szukalski: »Jetzt muß ich Sie warnen. Wegen der vielen Seuchentoten leidet unser Krankenhaus an akutem Personalmangel. Dr. Duszynska und ich sind nur deswegen immun, weil wir früher bereits an Fleckfieber erkrankt waren. So, da wären wir.«
Sie erreichten die oberste Treppenstufe, wo ihnen sofort ein widerlicher Gestank entgegenschlug. Sichtlich angeekelt, setzten sie ihren Weg fort, und das erste, was sie sahen, als sie die Station betraten, waren von Krankheit gezeichnete Körper, die unter besudelten Laken {299} mühsam atmeten, und die matte, gebeugte Gestalt eines Priesters, der einem hoffnungslosen Patienten die Sterbesakramente spendete.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, warnte Szukalski.
Langsam gingen die sechs – Maria und Jan, Müller und seine zwei Assistenten und als letzter Hartung, der darauf bestanden hatte mitzukommen – zwischen den beiden Bettreihen hindurch. »Suchen Sie sich einen Patienten aus, Dr. Müller«, forderte Szukalski ihn auf, »und ich werde seine Bettwäsche zurückziehen, damit Sie ihn ansehen können. Sie wollen den Patienten ja ganz gewiß nicht berühren oder ihm zu nahe
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