Nachtzug
kurz vor der Dämmerung, huschten David Ryż und Abraham Vogel wie Schatten durch Sofia. Die beiden jungen Zionisten, stets auf der Hut vor patrouillierenden Soldaten, mieden beleuchtete Straßenzüge und schlichen zu dem kleinen Backsteingebäude am Rande der Stadt, in dem sich eine Farben- und Lackfabrik befand.
Die Fabrik war von den Deutschen übernommen worden und diente ihnen als Werkstatt für ihre Militärfahrzeuge. David und Abraham versuchten schnell und leise, die Tür zu öffnen, und als sie sich schließlich Zugang verschafft hatten, machten sie sofort die zwei Dinge ausfindig, deretwegen sie gekommen waren. Nachdem sie alles verstaut hatten, eilten die beiden jungen Juden aus der Fabrik und tauchten schnell in der Dunkelheit unter, ohne eine Spur hinterlassen zu haben. Dann rannten sie mit den beiden kostbaren Funden, Salpeter und Schwefelsäure, in Windeseile zur Höhle zurück.
{77} Hauptsturmführer Dieter Schmidt betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Sein Abbild stellte für Schmidt, dem Bescheidenheit ein Fremdwort war und der sich nur von sich selbst beeindrucken ließ, einen ehrfurchtgebietenden Anblick dar. Er liebte es über alle Maßen, sich selbst im Spiegel zu betrachten.
Seine tadellose Uniform, deren Schwarz furchteinflößend schimmerte, war ein Produkt exzellenter Schneiderkunst und bezeugte seine Zugehörigkeit zur Elitetruppe des Reichs. Die subtile Wirkung des Totenkopfs, die aufblitzenden Runen auf den Kragenspiegeln und das schimmernde Koppelschloß mit dem stolzen Wahlspruch der SS »Meine Ehre heißt Treue«, die glänzenden schwarzen Stulpenstiefel, die Binde mit den Hakenkreuzen am linken Arm, die polierten Knöpfe sowie das makellos weiße Hemd mit der schwarzen Krawatte und – zur Abrundung des Gesamteindrucks – der bis zu den Knöcheln reichende Ledermantel und die schwarzen Handschuhe, ebenfalls aus Leder, all diese Einzelheiten fügten sich zu einem Gesamtbild, dessen Anblick Dieter Schmidt vor Freude und Erregung jedesmal den Atem verschlug.
Was er indes nicht bemerkte, als er sich von allen Seiten im Spiegel betrachtete, war, daß weder sein Gesicht noch seine Figur mit dieser Uniform harmonierten.
Obwohl er nach eigener Auffassung zu den Größeren im Lande zählte, gebrach es dem achtunddreißigjährigen Dieter Schmidt an zu vielem, als daß er als Inbegriff eines hünenhaften teutonischen Recken hätte gelten können, den das Reich von seinen SS -Führern hegte und pflegte. Dieter Schmidt war nämlich nur ein etwas zu kurz geratener, stämmiger Mann mit einem eckigen, blassen Gesicht und kleinen listigen, wäßrigen Augen. Das hervorstechendste Merkmal seines Gesichts indes war eine tief eingekerbte Narbe, die quer über seine linke Wange verlief. Er rühmte sich, sie bei einem erfolgreich geführten Fechtduell in Heidelberg erhalten zu haben, während sie in Wirklichkeit von einer zerbrochenen Bierflasche anläßlich einer gewöhnlichen Wirtshauskeilerei herrührte.
Jetzt suchte er nach seiner Stockpeitsche.
Dieter Schmidt pflegte die Askese. Nachdem er im November 1939 Quartier im Rathaus von Sofia bezogen hatte, war Hauptsturmführer Schmidt in den ehemaligen Sitzungssaal des Stadtrates einge {78} zogen, in dem er sogleich ein Bett, einen Tisch und eine Waschschüssel hatte aufstellen lassen. Er gehörte nicht zu jenen, die auf großem Fuß zu leben pflegten, zumindest seit einigen Jahren nicht mehr, da er gehört hatte, daß sein oberster Vorgesetzter, der Reichsführer SS Himmler, trotz seiner großen Macht und seines Einflusses privat nach wie vor ein spartanisches Leben führte. Schmidt, stets darauf bedacht, es seinen Vorgesetzten gleichzutun, lebte seitdem entsprechend anspruchslos.
Auch sein Führungsstil orientierte sich an solchen Beispielen, und so leitete er sein Hauptquartier, wie er es im SS -Hauptquartier in Berlin gelernt hatte, wo er sich vor seinen Vorgesetzten hatte bewähren können und ihm infolgedessen die Herrschaft über dieses reiche, ländliche Gebiet in Südostpolen übertragen worden war. Dabei war es für ihn eigentlich recht einfach gewesen, von seinen Vorgesetzten belobigt und befördert zu werden, irgendein Routineverhör, bei dem er Glück gehabt hatte, einen politischen Gefangenen von der Notwendigkeit des Redens zu »überzeugen«. Schmidt jedoch hatte sich insofern hervorgetan, als es niemandem vor ihm gelungen war,
diesen
Gefangenen zum Reden zu bringen.
Und eben diese Gabe, nämlich das hartnäckigste
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