Nachtzug
es plötzlich aus ihm heraus, und dann warf er sich mit einem unterdrückten Schluchzen in die trostbietenden Arme seiner Großmutter, wo er hemmungslos zu weinen begann.
»Warum sollte er das tun?« überlegte Szukalski und griff erneut nach der Karaffe. Die Wodkamischung war inzwischen lauwarm geworden, so daß er noch einmal den Schürhaken aus dem Feuer nahm und ihn kurz in das Gefäß steckte. Dann goß er sich noch ein heißes Glas ein. »Warum sollte er sich umbringen wollen?«
»Weil ihm das lieber ist, als ins Lager zurückzukehren«, entgegnete Wajda bedrückt.
»Und warum soll ich mir Sorgen machen, ob sich ein SS -Mann umbringt oder nicht? Wieder ein Bastard weniger! Wenn er sich so verdammt schuldig fühlt, warum desertiert er dann nicht einfach und flieht irgendwohin?«
Mit ruhiger Stimme erklärte der Priester: »Sie wissen, daß das ebenfalls auf Selbstmord hinauslaufen würde, Jan. Er wäre sofort ein toter Mann. Wohin könnte er denn fliehen?«
{75} »In die Hölle!« Szukalski führte das Glas an die Lippen und warf den Kopf in den Nacken. »Dann lassen Sie ihn doch ins Todeslager zurückkehren und mit seiner verfluchten Schuld leben; meinetwegen kann er sich auch umbringen, wenn ihm danach ist. Wenn ich wüßte, daß ich es tun könnte, ohne dabei erwischt zu werden, dann …«
»Jan«, besänftigte Piotr Wajda ihn.
Dr. Szukalski blickte in die grauen Augen seines Freundes. »Wie ich die Nazis kenne, würden sie die ganze Stadt auslöschen, wenn wir nur einen ihrer Leute ermorden. Und wenn ich es recht bedenke, dann täten sie wahrscheinlich das gleiche, wenn ein SS -Mann hier Selbstmord beginge, denn sie würden einfach annehmen, daß wir ihn umgebracht haben, und uns zur Strafe alle hinrichten. Hat das Oberkommando nicht einen Befehl erlassen, daß für jeden Deutschen, der von Widerstandskämpfern getötet wird, hundert von uns sterben müssen?«
»Ich denke, wir sollten ihm helfen«, versetzte der Priester ruhig. Seine kräftigen Hände streichelten sanft Djapas Fell. »Ihm helfen! Damit er zurückgeht und noch mehr Unschuldige schlachtet? Gaskammern, Herr Pfarrer!« Er knallte sein Glas auf den Kaminsims, so daß Djapa aufschreckte. »Sechstausend jeden Tag! Herr im Himmel! Was für ein Wahnsinn!«
»Er konnte es nicht verhindern, Jan; es ist nicht seine Schuld.«
»Natürlich nicht, keine Schneeflocke fühlt sich für die Lawine verantwortlich. Er tut Ihnen also leid?«
Piotr Wajda blickte auf das Hündchen, das sich in seinem Schoß genüßlich räkelte, und entgegnete leise: »Ich habe ihm die Absolution erteilt.«
Erneut breitete sich Schweigen aus, diesmal von Bitternis und Unbehagen erfüllt.
»Ich würde ihm gern irgendwie helfen, Jan. Ich möchte nicht, daß er wieder zurück muß.«
»Wie bitte? Einem SS -Mann helfen? O du meine Güte, Sie müssen ja verrückt sein! Außerdem, was wollen Sie denn ausrichten? Oder ich? Alles, was wir für ihn tun könnten, wäre nur vorübergehend hilfreich. Ein medizinischer Vorwand, von mir geliefert, könnte seinen Aufenthalt hier in Sofia sicherlich verlängern, aber am Ende müßte er doch wieder zurück.« Jan Szukalski stellte sich auf und fragte den Priester ohne Umschweife: »Gibt es noch andere Todeslager?«
{76} »Ich habe von einem gehört, das Majdanek heißt, in der Nähe von Lublin, und ich glaube, daß es noch viele andere gibt. Es wird Zeit, daß wir uns wehren, Jan.«
»Denken Sie etwa, das täte ich nicht gerne!« ereiferte sich Szukalski fast brüllend. »Meinen Sie denn, ich habe nicht alles unternommen, um von der Armee akzeptiert zu werden, auch wenn man mich schließlich wegen meines lahmen Beines ablehnte? Polen geht vor die Hunde, und ich muß ohnmächtig dabeistehen und es mir mitansehen. Und da kommen Sie her und werfen mir vor, daß …«
»Ich werfe Ihnen gar nichts vor, Jan.«
»Ihre Sorgen gelten auf einmal nur so einem verdammten, dahergelaufenen Nazi …«
»Jan«, erwiderte der Priester milde, »meine Sorgen gelten nur den anderen, den Menschen in Oświęcim. Auch ich habe nicht am Krieg teilnehmen können, Jan, aber wenn mir Gott diese eine Aufgabe zugewiesen hat, nämlich den Soldaten davon abzubringen, noch mehr Menschen zu töten, dann werde ich sie annehmen.«
»Heilige Maria Mutter Gottes, Pfarrer Wajda, stellen Sie sich den Tatsachen! Rühren Sie nur einen Finger zum Widerstand, und Sie werden für die Zerstörung ganz Sofias verantwortlich sein!«
Im Schutze der Dunkelheit,
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