Nachtzug
von dem dunklen Typus an sich hatte, wie er in der Familie Szukalskis anzutreffen war. Aber vom Charakter und Temperament her war er ganz der Vater, ein ruhiges, eher in sich gekehrtes Kind, dem es wahrscheinlich bestimmt war, später einmal Dichter oder Philosoph zu werden.
Unter dem Weihnachtsbaum befanden sich die Geschenke. Szukalski hatte das Glück gehabt, das Spielzeug von einem befreundeten Zimmermann zu bekommen. Es handelte sich um seltene Gegenstände, die schwer aufzutreiben waren und die es den Szukalskis ermöglichten, das Weihnachtsfest würdig zu begehen und die sonst so allgegenwärtigen Sorgen wenigstens dieses eine Mal zu vergessen.
Es gab einen kleinen Holzschlitten und ein Schaukelpferd mit einer langen geflochtenen Mähne und lackierten blauen Augen sowie ein Regiment von Spielzeugsoldaten, die Jan von überallher aufgetrieben und mit einem neuen Anstrich versehen hatte. Alexander war gerade damit beschäftigt, sein molliges Hinterteil auf den aufgemalten Sattel des Schaukelpferdes zu schwingen und voll wilder Verzückung davonzugaloppieren. Während er sich seinem Vergnügen hingab und {81} das ganze Haus mit seinem begeisterten Kreischen erfüllte, verharrte sein Vater auf der letzten Stufe der Treppe. Er spürte, wie sich sein Gesicht verfinsterte. Die Worte, die Piotr Wajda gerade vor ein paar Stunden gesprochen hatte, hallten in ihm wider: »Und die Kinder bringen die Nazis sofort um, da sie für sie keine Verwendung haben.«
Als Katarina, ebenfalls in einen Morgenmantel gehüllt, oben vom Schlafzimmer herunterkam, saß Jan auf dem Boden neben seinem Sohn und versuchte, die aufgeregte kleine Djapa davor zu bewahren, unter die Kufen des Pferdes zu geraten. Er hörte, wie Katarina durch den Raum streifte und geweihte Kerzen vor dem Porträt der Mutter Gottes entzündete, das in einer eigenen Nische hing, wie sie das Feuer schürte, bevor sie sich schließlich zu ihren beiden Männern unter den Weihnachtsbaum gesellte. Seine Frau, eine stille Person mit von der Hausarbeit rauhen Händen, reichte ihm sein Geschenk, das in buntes Papier eingewickelt war, wofür er sich wiederum mit einem Kuß und einer kleinen Kamee-Brosche bedankte, die einst seiner Großmutter gehört hatte. Als er das helle Gelächter Alexanders und das zarte Japsen und Knurren Djapas hörte, wünschte sich Jan Szukalski, daß dieser Augenblick kein Ende mehr nähme. Aber er besaß diese Macht nicht. Die friedliche Stunde verstrich rasch, dann wurde gefrühstückt und bald schon, viel zu schnell, hatte ihn die Realität wieder eingeholt. Warm angezogen und mit dem Versprechen, nicht zu lange im Krankenhaus zu bleiben, verließ er die behagliche Atmosphäre seines Heims und begab sich nach draußen in die beißende Kälte.
Der Dienst im Krankenhaus begann mit einem Schrecken. Die Oberschwester, eine Frau mit üppigen Hüften unter einem steifen weißen Kittel, kam ihm in der Eingangshalle mit einem Klemmbrett auf den Armen entgegen, das einen ganzen Stapel von Unterlagen zusammenhielt. Die Aufregung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Der Zigeuner, Herr Doktor, er ist letzte Nacht gestorben.«
»Wie bitte? Aber als ich ging, war sein Zustand doch stabil! Hat ihn schon jemand untersucht?«
»Dr. Duszynska. Sie ist heute morgen früher gekommen.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Daß entweder eine Pneumonie oder eine Hirnblutung die Ursache ist. Jedenfalls ist er gestorben, ohne das Bewußtsein wiederzuerlan {82} gen, Herr Doktor, die diensthabende Nachtschwester hat es mir erzählt. Sie sagte, sie sei die ganze Nacht auf der Krankenabteilung gewesen. Er habe nicht einen Ton von sich gegeben.«
Szukalski kratzte sich nachdenklich am Kinn. Natürlich war er überaus enttäuscht, hatte er doch so sehr gehofft, von dem Zigeuner noch weitere Informationen über das Massaker zu erhalten.
»Er ist in der Leichenhalle, Herr Doktor. Wollen Sie eine Autopsie vornehmen?«
Szukalski überlegte, dann antwortete er: »Nein, ich glaube nicht. Dr. Duszynska hat bestimmt recht, es wird eine Lungenentzündung oder eine Hirnblutung gewesen sein. Oder auch …« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht wollte der arme Kerl einfach nicht mehr aufwachen, nicht nach alldem, was er durchgemacht hat. Rufen Sie den Bestatter an und lassen Sie ihn alles für die Beerdigung vorbereiten. Ich gehe nicht davon aus, daß jemand nach der Leiche fragen wird.«
Sie nickte kurz, wandte sich um und überließ dem Doktor das Klemmbrett. Er verweilte einen
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